Warum „Aber China!“ und „Deutschland alleine kann nicht die Welt retten“ keine guten Argumente sind

Kennt Ihr das? Ihr fahrt mit dem Fahrrad ins Büro und an der Ampel kurbelt ein ältere Frau in einem absurd riesigen Benzinauto die Scheibe runter, blickt süffisant auf euch runter und sagt „Aber China!“. In der Mensa bestellt ihr das Gericht, das laut Menü den geringsten Klimaschaden verursacht und der Mann mit der Kelle in der Hand sagt „Ha! Das interessiert die in China auch nicht!“. Ihr montiert gerade ein paar Solarmodule auf dem Dach und der Nachbar ruft rüber „LOL – Das bringt doch gar nichts, solange die in China das Klima kaputt machen!“

* Aus Gründen der Leserlichkeit wird in diesem Artikel „China“ synonym für „Volksrepublik China“ und „CO2“ synonym für „CO2-Äquivalente“ verwendet.

Nein, mir ist so was auch noch nicht passiert. Im realen Leben gibt es das komischerweise in der Form nicht, aber im Internet dürfte dieses Muster wohl zu den häufigsten Erwiderungen in Klimadiskussionen zählen: Wieso sollen wir in Deutschland überhaupt mit viel Geld Klimaschutz betreiben, obwohl wir ein vergleichsweise kleines Land sind und die anderen Länder, insbesondere China, gleichzeitig weitere hunderte Kohlekraftwerke zubauen? Eine Variante davon ist, dass Deutschland allein nicht die Welt retten kann.

Es gibt zu dieser Argumentation passende Bilder, die seit Jahren in sozialen Medien herumgereicht werden und teilweise mehr Zuspruch bekommen als maximal niedliche Katzenvideos. Darauf zu sehen z.B. eine Weltkarte, auf der nur die 350.000 km² Deutschlands eingefärbt sind, oder eine Tortengrafik, die den deutschen Anteil am globalen Energieverbrauch darstellt. Die Message ist einleuchtend: Wie soll so ein geringer Teil allein jemals einen nennenswerten Unterschied machen?

Der Witz an der Sache: Niemand hat das jemals gefordert. Niemand aus der Politik, niemand aus der Forschung und niemand aus der Klimabubble, weil es schlicht grober Unfug wäre. Deutschland selbst hat nun mal das Klimaabkommen von Paris ratifiziert und ist nun Teil eines Teams aus 195 Staaten, die alle ihren eigenen Teil zur Lösung beitragen müssen. Mit diesem Detail im Hinterkopf wirkt die ganze Erwiderung auf mich eher so, als wenn eine Dozentin ihren 195 Studis eine Gruppenarbeit auf den Weg gibt, sich alle geeinigt haben, wer welchen Teil erledigt, und ein Student dennoch mit verschränkten Armen im Türrahmen steht und sagt „Wieso soll ich die Arbeit denn ganz allein schreiben??“

Man möchte ihm zurufen: „Sollst du nicht, das ist eine TEAM-Arbeit!“, den Duden-Artikel zu „Team“ ausdrucken und ihm zusammen mit etwas Apfelmus ins Gesicht reiben. Wenn sich nach einer Party alle WG-Bewohner:innen einigen, zusammen den Müll wegzuräumen, aber Bernd den anderen altklug vorrechnet, dass sein Zimmer nur 15 Prozent der gesamten Wohnung ausmache und er deswegen nicht die ganze Wohnung in Ordnung bringen könne, wäre diese durchsichtige Strategie vermutlich zum Scheitern verurteilt. Bei der Klimafrage haben die Bernds dieser Welt schlicht den rhetorischen Vorteil, dass ein Team aus 195 Mitgliedern viel unübersichtlicher ist bzw. der Anteil jedes einzelnen Mitglieds unscheinbar klein wirkt.

Es wird dann gerne vorgerechnet, dass der deutsche Anteil nur 2,5 Prozent der globalen Emissionen ausmacht, also nicht der Rede Wert, oder? Oder? Diese Sichtweise hat zwei gewaltige Haken:

  1. Es gibt überhaupt nur 5 Länder weltweit, die einen noch höheren CO2-Ausstoß haben. 189 der 195 Länder könnten also mit Deutschland gemeinsam dieses Spielchen spielen und sich darauf ausruhen, dass Länder mit einer recht großen Bevölkerung eben auch mehr CO2-Emissionen verursachen. Unter diesen 190 Ländern wären alle Staaten Südamerikas, ganz Afrika, ganz Europa und weitere Staaten mit recht hohen Pro-Kopf-Emissionen wie Australien, Kanada und Saudi-Arabien.
  2. Staatsgrenzen sind eine recht willkürliche Geschichte. Wenn ich die EU als einen Staat zähle, ist sie nach China und den USA der drittgrößte Emittent von Treibhausgasen: sie verantwortet knapp 10 Prozent der globalen Emissionen. Würden die Türkei, die Ukraine, Russland und alle anderen europäischen Länder den Vereinigten Staaten von Europa beitreten, lägen wir mit den USA nahezu gleichauf.

Klingt auf einmal viel schlechter, dabei hat sich unterm Strich gar nichts verschlechtert. Zusätzlich könnten sich China und Indien auch in jeweils 16 Einzelstaaten aufteilen, die alle mehr Einwohner und weniger CO2-Emissionen als die Bundesrepublik Deutschland in der Bilanz hätten. Dann wären die Länder mit den höchsten CO2-Emissionen in absteigender Reihenfolge: USA, Ver. Staaten von Europa, Japan, Iran, Südkorea, erst dann kämen die 16 chinesischen und dann die 16 indischen Staaten.

Die chinesische Delegation könnte bei der nächsten Klimakonferenz also einfach eine Karte mit den neuen Grenzlinien präsentieren, sich in ein paar von diesen aufblasbaren Campingsesseln fläzen, Schampus-Flaschen rumreichen und dem Rest sagen „So, jetzt macht ihr mal, wir sind ja nur auf Platz 6 und chillen hier erst mal schööön ab“.

Dem Klima bzw. uns Menschen brächte das wenig überraschend gar nichts, denn wir lägen immer noch auf einem bedrohlichen Pfad in Richtung unumkehrbarer Klima-Kipppunkte.

Es geht hier also nicht darum, irgendwas alleine zu machen. Vielmehr muss jedes Land seinen Anteil leisten. Welch lustiger Zufall: Genau das wurde im Pariser Klimaabkommen festgelegt. Auf dieselbe Weise haben wir als Weltgemeinschaft übrigens auch die weitere Ausdehnung des Ozonlochs verhindert. Deutschland hat ja auch seine FCKW-Emissionen auf null zurückgefahren, anstatt hier nur auf die scheinbar geringen 2,5 Prozent der weltweiten FCKW-Emissionen zu verweisen (oder wie viele das auch immer gewesen sein mögen).

Und jetzt ratet, wer seinen FCKW-Output auch reduziert hat: Alle anderen Staaten. Weder in Bezug auf FCKW noch auf CO2 steht Deutschland also als einsamer Held allein der Gefahr gegenüber. Was man Deutschland allerdings zu Gute halten muss, ist, dass es mit dem Ausbau von Solar- und Windkraft sehr früh begonnen hat. Erst dadurch wurde diese Technologie weltweit erschwinglich, so dass heute viele Länder dank der deutschen Energiewende ihre eigene Energiewende vorantreiben können: 

Das sind jetzt zugegeben alles nur Einzelbeispiele; daher auch gerne noch mal eine globale Sicht auf die Dinge: Von allen im Jahr 2020 zugebauten Kraftwerken zur Stromerzeugung entfielen 80 Prozent auf Erneuerbare Energien, davon wiederum 91 Prozent auf Solar- und Windkraft. Weltweit ist der Windkraftausbau trotz Pandemiejahr noch mal um satte 50 Prozent angewachsen. Und das ist nur der Anfang, denn sowohl Solarmodule, Windkraftanlagen als auch Batterien werden immer noch jedes Jahr deutlich günstiger, was dieses Dreigespann so disruptiv macht.

Schwimmendes Solarkraftwerk in Thailand

Die Beschwerde, dass Deutschland ja nicht alles allein machen könne, wirkt vor diesem Hintergrund etwas grotesk. Wie ein Mann, der mitten im einem voll ausgelasteten Impfzentrum zur erstbesten Ärztin latscht und sie wütend anbrüllt, dass er jetzt doch keine Impfung wolle, weil er die Pandemie ja nun mal nicht ganz alleine beenden könne. Nee, Sherlock, kannst du nicht, deswegen verimpfen wir ja auch hunderttausende Dosen jeden Tag. Wär halt nur schön, wenn du dabei mitmachst.

Vor wenigen Jahren gab es viele Meldungen wie diese hier: Deutschland treibt den Ausstieg voran – doch weltweit boomt die Kohle” (Handelsblatt). Nach der Lektüre war meine Stimmung schon eher düster – allerdings wusste ich da auch nicht, wie schlecht die zu Grunde liegenden Analysen disruptive Veränderungen berücksichtigen. Die Preise haben sich so stark verändert, dass es in Indien aktuell günstiger ist, ein neues Solarkraftwerk zu bauen als ein bereits laufendes Kohlekraftwerk weiter zu betreiben.

Passend dazu sind im Jahr 2020 erstmals mehr Kohlekraftwerke stillgelegt als eröffnet worden, bzw. die Gesamtkapazität ist gesunken, und das, obwohl es in China einen Zuwachs gab (dazu später mehr). Von allen Kohlekraftprojekten, die seit 2017 von chinesischen Banken außerhalb von China finanziert wurden, sind 4,5 mal so viele abgebrochen oder auf unbestimmte Zeit verschoben als tatsächlich gebaut worden. Allein in Indien betreffen diese Abbrüche Kraftwerkskapazitäten von 20 Gigawatt, so viel wie Deutschland insgesamt Braunkohlekraftwerke installiert hat. Weltweit sind es über 70 Gigawatt (Seite 12).

Während im Jahr 2015 die Länder Indonesien, Vietnam, Philippinen und Bangladesch insgesamt noch schockierende 125 Gigawatt Kohlekraftleistung zubauen wollten, schrumpften diese Pläne bis 2020 auf knapp 70 Gigawatt und könnten dieses Jahr noch mal auf 25 Gigawatt gekürzt werden. Offizielle Schätzungen wie die der IEA (Internationale Energie-Agentur) haben solche Entwicklungen teilweise sensationell verschlafen und versucht weiterhin die Zukunft zu prognostizieren, indem sie aktuelle Trends linear weiterführt, anstatt den exponentiellen Kurvenverlauf zu erkennen.

Menschen und Märkte sind schon ulkige Dinge. In einem Jahr wollen so viele Menschen Bubble Tea kaufen, dass es mehr dieser Läden als Bushaltestellen gibt, und schon ein Jahr später erntest du von deinen Kindern einen vernichtenden Blick für den offenbar superlahmen Vorschlag, auf einen dieser taiwanesischen Tees in die Innenstadt zu gehen.

Das haben eine Menge Analysten ebenso wenig vorhergesehen wie den bislang recht versteckten Wandel der Energiemärkte. Aktuelle Meldungen in den Medien setzen diesen Faktor oft nicht ins Verhältnis, so dass sie unnötig hoffnungslos klingen, obwohl weltweit so einiges passiert.

* sinkende Finanzierung für Kohlekraft. Balken auf der linken Seite stehen für stornierte oder abgerochene Projekte, die Balken rechts sind geplant oder im Bau begriffen

Ja, wäre Deutschland wirklich das einzige Land, das an der Dekarbonisierung arbeitet, dann wäre jede Diskussion darüber vollkommen sinnlos, denn dann würden wir so nachhaltig in Klima-Kipppunkte reinrennen, dass unsere Zivilisation todgeweiht wäre. Der Energiemarkt ist aber weltweit im Wandel, Deutschland muss diesbezüglich nicht die Welt retten, sondern eher sich selbst, denn welche Länder und Firmen den Energiemarkt der Zukunft dominieren, entscheidet sich heute.

Gut, aber was ist denn nun mit China? Dort passiert so viel gleichzeitig, dass eine Antwort darauf automatisch droht, verkürzt und verzerrend zu geraten. In Diskussionen dazu hört man meistens nur, wie unfassbar viele neue Kohlekraftwerke dort in Planung sind, und das ist erst mal eine valide Aussage: Im Jahr 2020 wurden weltweit 50 Gigawatt Kapazität in Kohlekraftwerken zugebaut, davon 38 Gigawatt oder fast 80 Prozent in China. Das entspricht immerhin fast der gesamten in Deutschland installierten Kohlekraftleistung von 42 Gigawatt – nur dass das in China in einem einzelnen Jahr dazu kam, eine in der Tat bedrohlich klingende Quote.

Wie sollen wir das Klima stabilisieren, wenn China mehr Kohlekraftwerke zubaut als der Rest abschalten kann? Kurze Antwort: Indem diese zusätzlichen Kraftwerke gar nicht zwingend dazu führen, dass mehr Kohle verbrannt wird: Seit 2013 stagniert der chinesische Kohleverbrauch.

Lange Antwort: China hat einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung hinter sich, der Millionen Menschen in dem Land aus der Armut herausholen konnte. Der Treibstoff für diesen Aufschwung war unter anderem die billige Kohle, wodurch die Kehrseite dieser Stromerzeugung auch jenseits der Klimaerwärmung für die chinesische Bevölkerung schnell greifbar wurde. Smogalarm, schlechte Wasserqualität und steigende Krankenzahlen waren vielerorts die Folge, weswegen schon früh Reformen an dieser Strategie gefordert wurden.

Die jährlich zusätzliche Nachfrage nach Strom war bereits am Sinken, als die Zentralregierung den Provinzen erlaubte, selbst über den Bau neuer Kohlekraftwerke zu entscheiden. Das führte zum Start vieler Kohlekraftprojekte, die eigentlich niemand brauchte, die der jeweiligen Provinz aber Steuereinnahmen und Jobs garantierte – ein klassischer und mittlerweile korrigierter Fehlanreiz. Die Anzahl der Kraftwerke stieg, aber da gar nicht mehr Strom benötigt wurde, sank die Auslastung dieser Werke insgesamt wieder.

Das erinnert so ein bisschen an diese Straßen, in denen mehrere Döner-Buden, Handy-Läden oder Sushi-Restaurants unmittelbar nebeneinander aufmachen, von denen dann kurze Zeit später total überraschend ein paar wieder schließen müssen – wer hätte das ahnen können?

Quelle: Statista

So ist das mit Kohlekraftwerken auch: Wenn gar nicht mehr Strom benötigt wird, dann sorgt ein neues Kraftwerk dafür, dass bei allen die Auslastung etwas runtergeht. Mit dem entscheidenden Nachteil, dass ihr so ein Kohlekraftwerk nicht mal eben mit dem Bausparvertrag finanziert bekommt, den Patentante Gisela für euch zum 16. Geburtstag abgeschlossen hat.

Eine 800-Megawatt-Anlage kostete 2007 ca. eine Milliarde Euro. Sinkt die Auslastung der Anlage unter 50 Prozent, wird es eng, denn die monatlichen Fixkosten für den Betrieb bleiben gleich hoch. Der Betrieb wird dann schnell zum Minusgeschäft.

Die Zentralregierung erließ in der Folge neue Regelungen und stoppte im Januar 2017 kurzerhand den Bau von sage und schreibe 104 geplanten Kohlekraftwerken (In Indien gibt es eine noch positivere Entwicklung). Zudem wurden durch den Neubau von modernen, viel teureren Kohlekraftwerken eine Menge älterer Meiler stillgelegt, die deutlich mehr CO2 und Verschmutzung pro Kilowattstunde Strom emittierten als moderne Anlagen das tun.

Um möglichst viele dieser modernen Kraftwerke ins Netz zu bekommen, hat China für seine Kraftwerke so strenge Emissionsvorgaben festgelegt, dass keines der noch laufenden US-Kohlekraftwerke in China betrieben werden dürfte bzw. selbst das ineffizienteste chinesische Kohlekraftwerk effizienter arbeitet als das effizienteste Kohlekraftwerk in den USA. Natürlich emittieren auch diese „sauberen“ Kohlekraftwerke viel zu viel Klimagase, um nachhaltig sein zu können, aber sie erhöhen die Kohle-Emissionen des Landes nicht, wenn sie ältere, ineffiziente Meiler ersetzen.

Gut, aber wenn die chinesische Regierung ohnehin so viel Geld in die Hand nimmt, wieso baut sie damit nicht gleich Wind- und Solarkraftwerke? Nun, das tut sie, und zwar in atemberaubender Geschwindigkeit: 2019 wurde in China etwas mehr Photovoltaik-Kapazität zugebaut als in der EU und den USA zusammen, und zwar 30 Gigawatt. Im Jahr 2017 waren es sogar unglaubliche 53 Gigawatt – das bedeutet, dass China innerhalb dieses einen Jahres mehr Solarkraft zugebaut hat als in Deutschland zu dieser Zeit insgesamt (!) installiert war.

Quelle: IEA
Quelle: IEA

Wenig überraschend liegt China bei dieser Ausbaugeschwindigkeit auch bezogen auf die insgesamt installierte Photovoltaik weltweit auf dem ersten Platz, noch deutlich vor der gesamten EU auf Platz 2. Die chinesischen Solarkraftwerke hatten Ende 2020 eine Gesamtkapazität von etwa 250 Gigawatt; das ist deutlich mehr als die Kapazität aller deutschen Kraftwerke zusammen, also inkl. Kohle, Gas, Kernkraft und den Erneuerbaren. Und wir reden hier immer noch von einem Land, dessen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf deutlich unter dem von Industrieländern wie Deutschland oder den USA liegt.

Auch bei der Windkraft dominiert China aktuell den Weltmarkt. Von der weltweit im Jahr 2020 zugebauten Windkraftkapazität entfallen 55 Prozent auf China. Auch insgesamt verfügt China über die meisten Windkraftkapazitäten weltweit.

Windkraftausbau weltweit im Jahr 2020, Quelle: GWEC

Durch die Berichterstattung zu Chinas Superlativen kann man schnell den Eindruck gewinnen, es handele sich um ein sehr reiches Land, aber gemessen an europäischen oder nordamerikanischen Verhältnissen ist es das (noch) nicht. Zudem haben wir als reiche Länder in zweierlei Hinsicht eine besondere Verantwortung:

  1. Historisch gesehen ist unser Beitrag zur globalen Erwärmung extrem hoch. Zusammen haben die Bundesrepublik, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien seit 1750 mehr CO2 emittiert als China – nur dass in diesen Ländern gerade mal 276 Millionen Menschen leben und in China mittlerweile fünfmal so viele.
  2. Eine stattliche Menge der chinesischen Emissionen werden durch Güter verursacht, die in andere Länder exportiert werden. Über die letzten 20 Jahre lag dieser Anteil im Schnitt bei ziemlich hohen 14,6 Prozent. Das bedeutet konkret: Die Emissionen für den chinesischen Export waren 2019 genauso hoch wie die gesamten Emissionen des Staates Japan.

    Also nicht nur so hoch wie die Emissionen aus dem japanischen Export, sondern so hoch wie die Emissionen der kompletten hochtechnisierten japanischen Gesellschaft mit ihren 125 Millionen Menschen, Kraftwerken, Autos, Heizungen etc., die damit immerhin fünftgrößter CO2-Emittent weltweit sind.

Die Länder mit den ohnehin schon hohen historischen Emissionsanteilen haben wiederum einen hohen CO2-Importanteil: Deutschland 14 Prozent, UK 14 Prozent, Frankreich 33,2 Prozent und Italien 33,8 Prozent, die in den offiziellen Klimabilanzen gar nicht auftauchen.

Es hat daher etwas unfreiwillig komisches, wenn deutsche Klimaschutzbremser auf China als schlechtes Beispiel verweisen, obwohl sie im eigenen Keller Unmengen an Unterhaltungselektronik, Lithium-Ionen-Batterien und Leiterplatten aus chinesischer Produktion angehäuft haben, welche die chinesischen Emissionen erhöhen.

Das klingt dann schon etwas anders als die allzu häufig verbreitete Geschichte des Landes der Mitte, das einfach Kohlekraftwerke errichtet als gäbe es die Klimakrise nicht. Und es ist auch plausibel, dass China das Thema ebenfalls ernst nimmt.

Eine Folge der deutschen Energiewende: weltweit stark fallende Kosten für Solarstrom
Quelle: RethinkX

Gewisse politische Kräfte agieren hierzulande leider so, als ginge es bei effektivem Klimaschutz nicht um eine existentielle Frage, sondern um irgendein possierliches Nagetier, das wir jetzt mal lieber schützen, weil es so niedlich ist. Dabei bedeutet Klimaschutz ganz konkret Menschenschutz – das Klima kommt auch ohne uns klar – und gerade ein Land mit 590 Millionen an Küsten lebenden Menschen (Stand 2010) hat ein veritables Eigeninteresse daran, die Erderwärmung zu begrenzen.

Das alles soll nun nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch China mittlerweile deutlich über dem globalen Durchschnitt von 4,8 Tonnen CO2-Emissionen pro Erdling liegt und eine Verantwortung für die langfristige Senkung hat. Wie gesagt, das ist eine Teamarbeit, und jedes Mitglied des Teams ist darauf angewiesen, dass alle mithelfen.

Aber wenn China derartig rasant Erneuerbare Energien ausbaut, wieso sinken die Emissionen dann nicht? Zu dieser Frage gibt es Unmengen guter, langer Artikel, aber die eine Ursache ist ähnlich schlecht identifizierbar wie den einen Grund zu finden, warum die neuste Star-Wars-Trilogie zu so einem albernen Unsinn geriet.

Grundsätzlich ist China wie ein riesiger Tanker, auf dem der richtige Kurs zwar eingeschlagen wurde, aber bis das gigantische Schiff die neue Ausrichtung erreicht hat, dauert es. Zwei Faktoren stechen heraus: Das starke Wachstum der chinesisches Wirtschaft und die Kombination Kohle, Solar- und Windkraft.

Der Strombedarf der chinesischen Industrie wuchs im ersten Quartal um 18 Prozent, insgesamt verbrauchte das ganze Land dadurch 11 Prozent mehr Strom. Dieser Mehrbedarf wurde schon überdurchschnittlich stark von klimaschonenden Kraftwerken abgefangen (+34 Prozent Windkraft, +19 Prozent Kernkraft, +18 Prozent Solarstrom). Parallel konnte wegen ungewöhnlich niedriger Regenmengen weniger Strom aus Wasserkraft gewonnen werden, so dass entsprechend mehr Kohle und Gas verstromt werden musste.

Eine Umstellung direkt von Kohlekraft auf Wind- und Solarstrom ist wie eine Runde Minecraft im Hardcore-Modus: Extrem schwierig und nervenaufreibend. Länder mit Erdgasvorkommen haben hier einen entscheidenden Vorteil, denn Gaskraftwerke können sehr flexibel auf mehr oder weniger Windstrom im Netz reagieren. In Kombination können Wind-, Solar- und Gaskraftwerke daher sehr effizient sein: Bei Flaute werden die Gaskraftwerke zugeschaltet, bei zunehmendem Wind wieder runtergefahren.

Zudem können wir die Gaskraftwerke langfristig auch mit klimaneutral hergestelltem Gas betreiben. Kohle- und Kernkraftwerke sind hingegen eher träge, man kann ihren Output lange nicht so schnell hoch- oder runterfahren. China muss daher viel mehr Solar- und Windkraft zubauen als Länder, die ihre Erneuerbaren mit auslaufenden Gaskraftwerken kombinieren können.

Neben der Stromerzeugung gibt es außerdem noch andere Sektoren mit Einfluss auf das Weltklima, bei denen China ambitionierter vorgeht als so mancher Industriestaat:

Im September 2020 überraschte Staatspräsident Xi Jinping mit der Ankündigung, dass China noch vor 2030 das Maximum seiner CO2-Emissionen und vor 2060 CO2-Neutralität erreichen wird. Um damit das globale 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, müssen die meisten Reduktionen schon bis 2050 abgeschlossen sein, aber grundsätzlich ist diese Begrenzung damit noch möglich. Ob das noch zum erwähnten jüngsten Anstieg der chinesischen Wirtschaft passt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.

Hochgeschwindigkeitszug in China

Fazit: Es ist kompliziert. Weder ist es so, dass China sich wie der letzte CO2-Rüpel aufführt, während wir in Europa uns asketisch einzuschränken versuchen, noch ist die aktuelle Situation dort für das Weltklima unproblematisch. China hat im Klimavertrag von Paris Zusagen gemacht und Europa auch. Wir müssen nun von allen Staaten einfordern, diese Zusagen auch einzuhalten. Und aktuell sieht es ja nicht so aus, als sei das eine sonderlich hohe Priorität der deutschen Regierung, wenn sie erst vom Bundesverfassungsgericht dazu gezwungen werden muss.

Der Witz ist nun: Wir als deutsche – oder auch ihr als österreichische bzw. schweizerische – Zivilgesellschaft können Druck auf unsere Regierungen machen, können das Thema in den allgemeinen Diskurs einbringen, können Parteien im Wahlkampf darauf festnageln, wie ihr Konzept für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels aussieht. Das sieht beim Nationalen Volkskongress in China leider etwas anders aus, denn auf meine Mail an zwei Exekutivvorsitzende des Präsidiums habe ich leider nie eine Antwort erhalten. Vermutlich ist mein holpriges Hochchinesisch einfach nicht überzeugend genug. Oder es liegt daran, dass ich sie nie abgeschickt habe, wer weiß…

Ja, die Zielvorgaben der Länder sind nicht gleich. Das mag unfair erscheinen, aber die Länder starten auch nicht unter den gleichen Voraussetzungen. China darf seine Emissionen noch ein paar Jahre erhöhen, während die USA und Europa sich sofortige Reduktionen zum Ziel gesetzt haben, so wurde das nun mal ausgehandelt. Es ist also wenig glaubwürdig, Klimaschutz in Deutschland wegen der Entwicklung in China in Frage zu stellen, obwohl diese aktuell noch in den vertraglich ausgehandelten Pfaden verläuft.

Zudem hat die Umstellung auf eine klimaneutrale Gesellschaft ja schon begonnen. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass wir wirtschaftlich etwas davon hätten, jetzt noch möglichst lange auf Kosten der Weltgemeinschaft Kohle, Gas und Öl zu verbrennen. Kurzfristig mag sich das vielleicht rechnen, aber spätestens wenn weltweit immer mehr Länder in ihrer Energieversorgung autark und von fossilen Brennstoffen unabhängig werden, wird uns das auf die Füße fallen. Dann sind Autos mit Verbrennungsmotoren Ladenhüter, und die weitsichtigen Länder und Firmen werden die weltweit immense Nachfrage nach Solarmodulen, Windkraftanlagen, Speichertechnologie und Wärmepumpen bedienen.

Man kann gerne das Pariser Abkommen als solches kritisieren, aber jetzt unseren Teil nicht einzuhalten wäre nicht nur ein Bruch mit einem internationalen Abkommen, sondern auch ein sehr schlechtes Beispiel für andere Länder. Nein, Deutschland muss und kann die Welt nicht allein retten. Vielmehr muss die ganze Welt sich selbst retten, und Deutschland ist nun mal ein Teil dieser Welt. Ein ziemlich reicher Teil mit einer großen Verantwortung.

Fangen wir wieder an, auch so zu handeln.

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Warum Mineralölspuren in Veggiewürsten kein so großes Problem sind, wie die Öko-Test behauptet

Ja, die ÖKO-TEST hat mal wieder Spuren von Mineralöl in Produkten gefunden. Waren es im Jahr 2019 noch vegetarische Burger und im März 2021 veganes Hack, sind es jetzt vegetarische Würste. Wie originell… So wie bei den Fortsetzungen von der Weiße Hai werden auch die „Ah, Hilfe, Mineralöl!“-Meldungen der Öko-Test mit zunehmender Anzahl eher öde und vorhersehbar.

Sollte euch das zu langweilig sein und ihr droht aufgrund des Wiederholungsfaktors einzuschlafen: Es gibt auch entsprechende Testergebnisse, die vor Mineralöl in Müsli-Riegeln, Handcreme, Salamipizzen, Schokolade, Haferflocken, Parmesan, Toastbrot, Kokosmilch, Rapsöl und vermutlich auch neugeborenen Rehkitzen warnen.

Für alle, die sich über den Sarkasmus an dieser Stelle wundern und der Ansicht sind, dass Mineralöl im Essen ja nun wirklich nichts zu suchen hat: Ja, hat es nicht. Ich habe mich mit dem Thema nur schon vor 1,5 Jahren beschäftigt und lebe immer in (womöglich übertriebener) Sorge, mein Publikum mit Wiederholungen zu langweilen. Deswegen habe ich den ganzen Vorgang letzten Freitag etwas lapidar auf Facebook kommentiert, was bei einigen Personen zu Unverständnis führte.

Bei diesen ist wohl der Eindruck entstanden, ich nähme das Thema nicht ernst und wolle die im Test schlecht weggekommenen Firmen verteidigen. Ich kann das nachvollziehen, denn ich bin auf einige Punkte nicht wirklich eingegangen und war auch etwas zynisch und sarkastisch. Deswegen schreibe ich es hier jetzt noch mal ausführlicher zusammen, denn an den Gründen für meine damalige Kritik hat sich eigentlich kaum etwas geändert. Um zu verstehen, warum ich die schlechten Noten für ungerechtfertigt halte, ist folgendes wichtig:

Heutige Messmethoden sind einfach krass sensibel. Mithilfe einer Gaschromatografie können selbst minimale Substanzmengen nachgewiesen werden, die Nachweisgrenze liegt zwischen einem Milliardstel Gramm und einem Billionstel (!) Gramm. Letzteres entspricht ungefähr dem Gewicht eines E.coli-Bakteriums. Die Methode ist also so empfindlich, dass selbst die Verunreinigung mit dem Gewichtsäquivalent von einem E.coli-Bakterum in einer Packung Reis gemessen werden kann.

Das ist einerseits großartig, denn je genauer wir messen können, desto mehr wissen wir. Das bedeutet andererseits, dass Messergebnisse sinnvoll eingeordnet werden müssen, um ihre Bedeutung zu verstehen. Dass bei so einer genauen Messung etwas gefunden wird, ist alles andere als eine Sensation – im Gegenteil: Es wäre eine Sensation, wenn gar nichts gefunden werden würde.

So muss das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bei einer Messung von MOSH-Verunreinigungen in Couscous erst mal aufwändig unterscheiden, wie viel der Verunreinigung aus dem Couscous selbst stammt und wie viel aus der Verpackung. Warum die das nicht einfach mit einer Portion unbelastetem Couscous vergleichen? Weil für so einen Vergleich schlicht kein Couscous komplett ohne Mineralölverunreinigung verfügbar war (Seite 55).

Ich weiß, es drängt sich die Frage auf, warum in aller Welt Hersteller von Couscous, veganen Würsten und Salamipizza denken, Mineralöl sei ein sinnvoller Teil von Rezepturen. Antwort: Das tun sie nicht. Die Rückstände der gesättigten Mineralölkohlenwasserstoffe (englisch: Mineral Oil Saturated Hydrocarbons oder MOSH) gelangen in der Regel nicht in die Produkte, weil die Entwicklungsabteilung sich davon eine fluffige Konsistenz verspricht, sondern weil das bei Herstellung, Transport und Lagerung unerwünschterweise passiert.

Andere Medien warnen vor Veggie-Würstchen

Diverse Teile von Verpackungen sind potentielle Quellen für einen Übergang von MOSH in ein Lebensmittel, darunter insbesondere Recyclingpapier, aber auch Jutesäcke oder Druckfarben. Für die meisten Ernte- und Verarbeitungsmaschinen werden Schmieröle auf Mineralölbasis genutzt, aber auch Abgase aus der Umwelt können Agrar-Rohstoffe in sehr geringen, aber eben messbaren Mengen kontaminieren.

Für die Hersteller der Produkte, die wir schlussendlich im Einzelhandel erwerben, ist es also unter Umständen gar nicht so einfach möglich, die Ursache einer Belastung mit MOSH zu identifizieren bzw. effektiv etwas dagegen zu tun. Die Messung erfolgt wie schon gesagt chromatographisch, das ist deutlich komplizierter als das messen einer Temperatur und auch schlechter reproduzierbar.

Laut Blick auf das Thermometer in meinem Büro herrschen hier aktuell 21,4 Grad Celsius. Würde mein Coworking-Kollege Lars diese Messung jetzt gleich wiederholen, so läge das Testergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit immer noch sehr nahe an 21,4 Grad Celsius. Kaufe ich aber eine Packung Alnatura-Würstchen aus Seitan und ein Labor misst darin 3 Milligramm MOSH / Kilogramm, dann ist überhaupt nicht gesagt, ob eine Messung wenige Wochen später den gleichen Wert ergäbe.

Bei der neuerlichen Ernte des Weizens könnte dann zum Beispiel ein Tropfen Schmieröl des Mähdreschers im Überladewagen landen. Die neue Testprobe könnte außerdem aus einer Verpackung stammen, die ein paar Wochen länger zusätzlich in einem großen Wellpappkarton gelagert wird. Die Würstchen wären den in den Verpackungen enthaltenen Mineralölkohlenwasserstoffen dann länger ausgesetzt und es würde mutmaßlich ein entsprechend höherer Wert gemessen werden.

Die Herstellerfirma hätte dann also alles genauso gemacht wie immer, würde aber dennoch eine strenge Abwertung für eine recht zufälliges Ergebnis erfahren. Zudem spielen die Konsistenz und die Oberflächenbeschaffenheit des Lebensmittels eine große Rolle, besonders trockengelagerte Produkte wie Reis- oder andere Getreideprodukte, sowie Pflanzenöle nehmen MOSH aus den Verpackungen leichter auf als andere.

Aus einem höheren Wert in Produkt A können wir also nicht schließen, dass der Hersteller fahrlässig oder gleichgültig handelt und wir deswegen lieber Produkt B kaufen sollten. Das soll nun nicht bedeuten, dass es uns egal sein sollte, ob solche Verunreinigungen in unseren Lebensmitteln vorkommen. Das in diesem Artikel vielzitierte BfR schreibt:

Die Verunreinigung von Lebensmitteln mit Mineralölbestandteilen aus Verpackungen ist unerwünscht.

https://www.bfr.bund.de/de/fragen_und_antworten_zu_mineraloelbestandteilen_in_lebensmitteln-132213.html

Natürlich wollen wir möglichst wenig Schadstoffe. Nein, eigentlich wollen wir gar keine Schadstoffe. Weg mit den Schadstoffen, buh! Schadstoffe, go home, ihr nervt voll! Dieses hehre Ziel dürfte nur leider bis auf weiteres unerreichbar sein, denn dann müssten nicht nur die Spuren von Mineralöl verschwinden, sondern auch eine Menge anderer Substanzen, die unsere Umwelt bereithält.

Reaktion vom Focus

In unserer Erdkruste lauern diverse Elemente und Verbindungen, die von Pflanzen über die Wurzeln aufgenommen werden und dann ggf. in unserem Essen landen, auch wenn wir das nicht so prickelnd finden. Vergleichsweise hohe Dosen erreichen z.B. Arsen in Reis, Cadmium in Pilzen und Leinsamen sowie Quecksilber in Muscheln und Fischen. Selbst unser Leitungswasser ist nicht vollkommen frei von Substanzen, die in hohen Dosen sehr gefährlich sind. In der Trinkwasserverordnung ist geregelt, welche Grenzwerte für welche Stoffe gelten, so sind z.B. 250 mg Chlorid, 0,01 mg Uran oder 0,01 mg Blei pro Liter Wasser erlaubt.

Und Blei ist wirklich ein übles Zeug. Schon ab 0,1 mg Blei pro Liter Blut kann bei Kindern ein verminderter IQ gemessen werden. Ab 0,8 mg Blei pro Liter Blut kommt es zu Schädigungen des Gehirns, die unbehandelt häufig tödlich enden und bleibende neurologische Schäden hinterlassen können. Und das richtig Gemeine: Die Halbwertszeit von Blei im menschlichen Körper liegt bei mehreren Jahren.

Die in meinen Augen relevante Frage ist also: Ab welcher Menge ist MOSH ungesund? Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat im Dezember 2020 noch mal seine FAQ zu Mineralölbestandteilen in Lebensmitteln aktualisiert, und laut dieser gibt immer noch keinen nachgewiesenen gesundheitlichen Schaden für übliche Aufnahmemengen von MOSH und infolgedessen auch keine sinnvoll definierbaren Grenzwerte.

Die Öko-Test hat nun schlicht ihre eigenen Grenzwerte erfunden und entscheidet, dass gemessene Konzentrationen bis 1 mg MOSH / kg Nahrungsmittel nur unbedenkliche Spuren sind. Warum? Auf welcher Grundlage wird diese Grenze gezogen?

Die einzigen bislang gemessenen Effekte wurden übrigens an einem bestimmten Rattenstamm nachgewiesen, dessen Nahrung mit 19 mg MOSH / Kilogramm Nahrung angereichert wurde. Dann konnten entzündliche Effekte in der Leber dieser Tiere beobachtet werden. Inwiefern dieser Fund nun auf Menschen übertragbar ist, kann wie bei allen reinen Tierversuchen nicht wirklich eingeschätzt werden.

Da entsprechende Leberentzündungen bei Menschen recht selten sind, obwohl wir diesen Mineralölen recht häufig ausgesetzt sind, liegt der Verdacht nahe, dass MOSH auf Menschen weniger Auswirkungen als auf den untersuchten Rattenstamm haben.

Menschen in Europa nehmen laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit pro Tag ohnehin im Schnitt 0,03 bis 0,3 Milligramm MOSH pro Kilogramm Körpermasse auf. Auf eine 70 kg schwere Europäerin bezogen bedeutet das also eine tägliche Aufnahme zwischen 2,1 und 21 Milligramm MOSH.

Eine 200-Gramm-Packung Beyond Sausages enthält laut Öko-Test aber maximal 0,8 Milligramm MOSH – also ca. ein Drittel der Menge, die eine Erwachsene ohnehin täglich mindestens aufnimmt. Sieht für mich ja nach einem recht unauffälligen Befund aus. Die Öko-Test nennt die Menge hingegen „erhöht“ und zieht dafür einfach mal zwei komplette Noten ab. Produkte, die pro 200 Gramm-Packung mehr als 0,8 Milligramm MOSH enthalten, werden als „stark erhöht“ eingestuft und bekommen volle 4 Noten abgezogen.

Die Belastung mit einem Produkt, von dem ich ein Kilo vertilgen kann, ohne dass meine MOSH-Aufnahme dadurch den europäischen Durchschnitt übersteigen würde, ist in den Augen der Redaktion also stark erhöht und allein deswegen stürzt das Produkt dafür von „sehr gut“ auf „mangelhaft“ ab, auch weil nicht sicher ausgeschlossen werden könne, dass uns MOSH auf anderem Wege schadet.

Tja, das ist so eine Sache: Wir können generell nie zu 100 Prozent ausschließen, dass uns irgendetwas schadet, denn dazu müssten wir beweisen, dass etwas nicht passiert/existiert. Wir können es mit Hilfe von Studien eingrenzen und Wahrscheinlichkeiten berechnen, aber selbst das gibt uns keine hundertprozentige Sicherheit, dass es nicht doch einen Effekt gibt, den wir einfach übersehen haben.

Bislang wurde für uns halt keine Gefahr gefunden, zumindest sofern ihr keine Exemplare des Rattenstammes F344 seid – in dem Fall aber Respekt, dass ihr bis hierhin gelesen habt. Bei den Ratten wurden vermehrt Mikro-Granulome in der Leber festgestellt, ein Krankheitsbild, das bei Menschen im Allgemeinen asymptomatisch verläuft.

Reichweitenstarke Accounts teilen die Geschichte auf Facebook

Eine Studie, die 12161 Leberbiopsien ausgewertet hat und darunter 472 Granulome finden konnte, konnte nur für 0,7 Prozent dieser Fälle keine Ursache finden. Und das, obwohl wir in Europa einer MOSH-Belastung ausgesetzt sind, die in den Augen der Öko-Test stark erhöht ist.

Das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat folgende Richtwerte herausgegeben:

13 mg MOSH / kg: Pflanzliche Öle wie Rapsöl, Sonnenblumenöl, Leinöl, Olivenöl
9 mg MOSH / kg: Süßwaren (Zuckerwaren außer Kaugummi) Schokolade und kakaobasierte Süßwaren
6 mg MOSH / kg: Brot und Kleingebäck, Feine Backwaren, Getreideerzeugnisse und getreidebasierte Produkte, Cerealien, Teigwaren, Reis

Das gilt in Öko-Test-Kriterien jedoch alles als „stark erhöht“ (ab 4 mg MOSH/kg), obwohl es gar keinen offiziellen Grenzwert gibt, der hier überschritten worden wäre. Natürlich kann die Redaktion zum Urteil kommen, dass ihnen diese Werte zu hoch sind, aber sowohl bei Öko-Test als auch in den darüber berichtenden Medien wird mit den Begriffen „gesundheitsschädlich“ und „ungesund“ hantiert, was nach aktuellem Kenntnisstand einfach nicht den Tatsachen entspricht. Zudem müssten sie dann vielleicht auch dazu sagen, dass die durchschnittliche, tägliche Aufnahme von MOSH in Europa ebenfalls stark erhöht wäre und durch den Konsum von ein paar Veggiewürstchen nicht mehr nennenswert steigt.

Die Frage ist außerdem, was die Hersteller denn nun konkret machen können, um im nächsten Testbericht eine bessere Bewertung zu erhalten. Laut BfR gibt es folgende Optionen:

  • Einsatz von Frischfaserkartons
  • Verwendung von mineralölfreien Druckfarben
  • Funktionellen Barrieren in den Verpackungsaufbau einbauen

Ja, das wäre eine Lösung, aber Frischfaser bedeutet eben, dass wir entsprechend viel mehr Bäume zu Papier und Pappe verarbeiten müssen bzw. mit funktionellen Barrieren mehr Müll verursachen. Die Verwendung von mineralölfreien Druckfarben ist da in meinen Augen noch die sinnvollste Maßnahme, aber hierzu müsste eher die Zeitungswirtschaft einbezogen werden, die jährlich über bedruckte Zeitungen 70.000 Tonnen Mineralöl freisetzt, anstatt dafür Pflanzenöle zu verwenden.

Würden jetzt aber alle Hersteller auf Frischfaser und aufwändigere Verpackungen umstellen, würden wir uns einen vermeintlichen gesundheitlichen Vorteil mit gewaltigen ökologischen Schäden erkaufen. Es wirkt dann halt schon schrullig, wenn eine Zeitschrift namens „Öko-Test“ solche Maßnahmen anstößt.

Mir wurde dann im Verlauf vorgeworfen, ich sei nicht auf die anderen Schadstoffe eingegangen. Aber auch da sehe ich die Veggiewurst-Kritiker erst mal in der Pflicht, ihre Behauptung zu belegen. Das Produkt von Wheaty wurde z.B. um eine zusätzliche Note abgewertet, weil es Hefeextrakt enthält. Es gibt aber bislang keine nachvollziehbare Begründung für so eine Abwertung – im Gegenteil – und auf Nachfrage erhalten die Hersteller auch keine Antwort auf ihre Nachfragen.

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Andere Abwertungen gab es für Aroma und Würze, irgendwas ist ja immer. Und auch die gefundenen Spuren von Pestiziden, MOAH und Wirkverstärkern lassen sich schlecht einordnen, wenn nirgends angegeben ist, wie viel davon gefunden wurde.

Da es außerdem eine ganze Reihe von Produkten gibt, deren MOSH-Richtwerte aus Sicht der Öko-Test stark erhöht sind, werden wir über die kommenden Jahre vermutlich weitere schockierende Testberichte zu lesen bekommen, deren Messergebnisse aber eigentlich erwartbar sind.

Für die nächste Meldung über Mineralölverunreinigungen in der Öko-Test empfehle ich daher: Keep calm and eat veggie sausages

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