Nein, durch das Abschalten der Atomkraftwerke droht uns kein Stromausfall

Okay, das wird jetzt bitter für alle, die sich den Keller schon mit Dosenravioli, eingemachtem Rosenkohl und sauren Zungen vollgestellt hatten: Es gibt gar keinen Stromausfall. Und jetzt? Sitzen sie da, müssen den ganzen Rosenkohl trotzdem essen und in Kombination mit den sauren Zungen kann das echt auf den Magen schlagen. Blöd.

Vor 19 Tagen war es nämlich soweit: 3 der verbliebenen 6 Kernreaktoren in Deutschland wurden abgeschaltet. Und obwohl das ein 10 Jahre alter Kompromiss zwischen Energiewirtschaft und Politik war, der da entsprechend lange geplant umgesetzt wurde, ging das Schreckgespenst deutschlandweiter Stromausfälle durch die Gazetten, so als wenn der Strom-Grinch in den Kraftwerken aus einer bösen Laune heraus den Not-Aus-Knopf drücken würde.

Klar, diese Geschichte erzählt natürlich besonders gerne die AfD. Je mehr Angst die Leute haben, umso eher sind sie bereit, vollkommen ungeeignete Leute in Ämter zu wählen. Da wird gepoltert „Mitten in der größten Energieknappheit seit Jahrzehnten werden aus ideologischen Gründen fast 9 GW Leistung vom Netz genommen“ (stimmt nicht) oder „Mit der Abschaltung dreier deutscher Kernkraftwerke Ende des Jahres steigt massiv die Gefahr eines Blackouts“ (stimmt auch nicht).

Aber neben den braunen Terrorschlümpfen gibt es auch ganz seriöse Quellen, die vor einem Blackout warnten. Die Wirtschaftswoche fragte „Droht nun der Blackout?“. Der Bayerische Rundfunk vermeldete: „Kernkraftwerk Gundremmingen wird abgeschaltet: Reicht der Strom?“ und der Ex-Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, durfte eine ganze Kolumne um die Fragestellung „Geht in Deutschland bald das Licht aus, weil wir nicht mehr genug Strom produzieren?“ verfassen.

Nun lauten die Antworten auf all diese Fragen aber schlicht „nein“, „ja“ und „nein“. Nein, es droht kein Blackout, ja, der Strom reicht, nein, das Licht geht nicht aus. Wie ich zu dieser Einschätzung komme? Nun, Folgendes ist am 31.12.2021 passiert: Die Reaktoren Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C sind abgeschaltet worden.

Ui, gleich drei Kernkraftwerke weniger, das klingt natürlich erst mal einschneidend und bedrohlich. Das liegt aber auch daran, dass die wenigsten Menschen eine grobe Idee haben, wie viel Strom so ein Kernkraftwerk liefert und wie viel wir in Deutschland verbrauchen. Unpraktischerweise muss man zu diesen Überlegungen nämlich mit einer Unzahl von Nullen und kompliziert klingenden Einheiten hantieren, wobei viele Menschen nach meiner Erfahrung entweder sehr, sehr wütend werden oder spontan einschlafen.

Bei mir ist es genau andersrum: Ich kann stundenlang durch die Fraunhofer Energy Charts scrollen und denke dann Sachen wie „boah, interessant“ oder „ach, ist ja erstaunlich“, mache mir dabei Notizen und erzähle meinem Coworker etwas über das französische Stromnetz. Der ist nämlich zu höflich, um „das interessiert mich einen Scheiß, Jan!“ zu sagen, so dass ich in der Illusion lebe, er wolle das wirklich hören. Und jetzt, Anfang 2022, ist das Thema auf einmal echt relevant und von Debatten überschattet, so dass ein paar nerdy Zahlen vielleicht doch interessant sind, denn so einen Stromausfall will ja auch niemand.

Also, das war die deutsche Stromerzeugung Ende 2021:

Die einzelnen Farben symbolisieren unterschiedliche Kraftwerkstypen (gelb = Solarstrom, hellgrün = Windkraft, hellblau = Pumpspeicher usw.). Rot steht für den Strom aus Kernkraftwerken und alle übereinander symbolisieren den gesamten Strom, der in Deutschland generiert wird. Und ganz wichtig: Die schwarze Linie, das ist die Last; also der gleichzeitige Verbrauch aller Geräte, die in Deutschland ans Stromnetz angeschlossen sind. Sie schwankte in der letzten Woche des Jahres zwischen 40 und 60 Gigawatt, was urlaubs- und pandemiebedingt etwas weniger ist als in einer durchschnittlichen Woche.

Wer sich das Bild aufmerksam ansieht, stellt schnell fest: Der erzeugte Strom weicht von der Last ständig ab. In Woche 52 war andauernd mehr Strom im Netz als wir verbraucht haben und kurzzeitig am 29.12.2021 gab es auch mal eine Stromlücke von etwa 2 Gigawatt – wie kann das sein? Kann es nicht, Stromerzeugung und -verbrauch müssen sich immer die Waage halten, sonst wird das Netz überlastet. Das Bild ergibt sich tatsächlich nur, weil hier Exporte und Importe ausgeblendet sind. Blende ich sie ein, liegen die Linien nahezu gleichauf.

Was passiert mit diesem System also, wenn wir gleichzeitig 3 Kernreaktoren abschalten? Das ist in der Grafik recht gut zu erkennen: Über dem Timestamp „31.12.2021“ ist deutlich zu sehen, wie der rote Balken sich ungefähr halbiert, aus 8 Gigawatt Leistung werden 4 Gigawatt Leistung. Tatsächlich war das aber kein so harter Cut, das sieht hier nur so aus, weil die deutsche Strombörse ihre Daten mutmaßlich fehlerhaft ins System speist. Einen Kernreaktor kann man nicht einfach ausschalten wie einen Stabmixer, vielmehr dauert es schon ein paar Stunden, bis die Leistung auf null abgesunken ist.

Schaut man sich die blockscharfe Erzeugung an, gibt es ein realistischeres Bild. Grundremmingen C lief um 20 Uhr nicht mehr, Brokdorf und Grohnde waren ab Mitternacht aus.

Der Knick im ersten Bild ist also zu steil und zu früh eingezeichnet, aber für das Gesamtbild ist das unerheblich. Wichtig ist: Der restliche Kraftwerkspark hat die ausbleibende Leistung problemlos abgefangen. Direkt zum Jahreswechsel war sogar so viel Windstrom im Netz, dass kein einziges fossiles Kraftwerk die Leistung hochfahren musste. Wir haben einfach nur weniger Strom exportiert und stattdessen selbst genutzt.

Aber was wäre ohne den vielen Wind passiert? Dafür springen wir in Woche zwei des neuen Jahres, denn ab dem 10. Januar 2022 legte der Wind in Deutschland für 48 Stunden eine ähnliche Motivation an den Tag wie J.J. Abrams beim Schreiben der Drehbücher für die Star Wars-Fortsetzungen und lungerte stundenlang nur in der Gegend herum:

Der Urlaub war zudem vorbei, die deutschen Stanzwerke und Galvanisierungsbetriebe liefen wieder auf Hochtouren und so kletterte der Bedarf auf 70 Gigawatt, ein für deutsche Werktage recht typischer Wert. Und, fiel dann landesweit der Strom aus? Natürlich nicht, stattdessen lieferten nun die fossilen Kraftwerke den fehlenden Strom: 15 Gigawatt kamen aus Gaskraftwerken und 25 Gigawatt aus Kohlekraftwerken, zudem haben wir am Montag 10 Gigawatt importiert.

Aha, Importe! Also ist das deutsche Stromnetz jetzt vom Ausland abhängig und wir schalten hier einfach alles aus, um dann französischen Atomstrom zu importieren, danke Merkel! Ach Mist, hier passt das ja sogar einigermaßen – aber tatsächlich importieren wir den meisten Strom gar nicht aus Frankreich. An besagtem 10. Januar haben wir während der höchsten Verbrauchsspitze 1,6 Gigawatt aus Frankreich importiert und 9,2 Gigawatt aus dem restlichen Europa (primär Norwegen, Niederlande, Dänemark, Schweiz).

Und auch das ist kein Problem. Viele denken, wir würden nur dann Strom importieren, wenn wir gar keine andere Wahl mehr haben, aber tatsächlich importieren wir auch dann, wenn es schlicht günstiger ist als noch mehr eigene Kraftwerke anzuwerfen. Am 10. Januar hätten wir die fehlenden 10 Gigawatt auch selbst erzeugen können, es wäre nur einfach unökonomisch gewesen. Unökonomisch, aber im Notfall möglich:

In Deutschland ist zusätzlich zur Wind- und Sonnenkraft an Leistung aktuell installiert: 30 Gigawatt Gaskraftwerke, 38 Gigawatt Kohlekraft, 8,5 Gigawatt Biomasse, 5 Gigawatt Wasserkraft, 4 Gigawatt Kernkraft und 7 Gigawatt Reservekraftwerke (unter Anderem Mineralöl).

Bedeutet: Selbst wenn in ganz Deutschland nirgends Wind weht und kein einziges Photon auf unsere Solarzellen trifft, können die restlichen Kraftwerke 92,5 Gigawatt Leistung bereitstellen. Die höchste Last hatten wir letztes Jahr am 11.01.2021 mit 79 Gigawatt und auch da waren unsere Kraftwerke alles andere als voll ausgelastet. Wer in dieser Situation also vor akuten, flächendeckenden Stromausfällen warnt, kennt das deutsche Stromnetz einfach nicht (fairerweise muss ich ergänzen: Bei meinen Twitter-Diskussionen zu dieser Frage haben das die meisten Kernkraft-Supporter genauso eingeschätzt).

Deutschland befindet sich nach wie vor in einer deutlichen Überversorgung: Wir haben seit 2006 jedes Jahr mehr Strom ins Ausland exportiert als importiert und auch in der Handelsbilanz mit Frankreich haben wir seit mindestens 2015 einen deutlichen Strom-Exportüberschuss. Bedeutet also , dass Frankreich mehr Strom aus Deutschland importiert als umgekehrt.

Allein letztes Jahr haben wir 8,5 Terawattstunden aus Frankreich importiert und 15 Terawattstunden nach Frankreich exportiert, im Detail sieht das für das Jahr 2021 so aus (Ausschläge über null sind Importe, Ausschlage kleiner null Exporte):

Quelle: Fraunhofer Energy Charts

Stromimporte und -exporte sind übrigens grundsätzlich kein Beweis für irgendwelche schlechten Netze, es zeigt einfach nur, wie gut das europäische Verbundnetz funktioniert. Dass wir bei Überkapazitäten Strom an andere Länder abgeben und bei Bedarf welchen von dort kaufen ist viel effizienter, als wenn jedes Land sein ganz eigenes Süppchen kochen würde.

Tatsächlich ist die folgenreichste Konsequenz aus der Abschaltung, dass nun an Tagen mit weniger Windstrom als dieser Woche mehr fossile Kraftwerke einspringen müssen, um die jetzt fehlenden 4 Gigawatt aus der Kernkraft auszugleichen. Entsprechend mehr CO2 verursacht eine Kilowattstunde aus dem deutschen Strommix dann logischerweise.

Hier stellen viele die Frage, warum wir in Deutschland denn nicht zuerst aus der Kohle und dann aus der Kernkraft ausgestiegen sind und ja, die Frage ist berechtigt. Die Reihenfolge des Ausstiegs kann man gerne kritisieren. Aber die Sorge vor Blackouts wird dadurch nicht plausibler.

Grundsätzlich ist es aber auch nicht richtig zu behaupten, dass statt der Kernkraft jetzt immer Kohlekraftwerke einspringen. Tatsächlich wurde die fehlende Kernkraft in 2022 bislang mit Gaskraftwerken, Windkraft und Kohle kompensiert, immer abhängig von der Größe der Stromlücke.

Am meisten Strom haben wir netto übrigens aus Dänemark importiert, dessen Strommix 2021 fast zu 70 Prozent aus erneuerbaren Quellen bestand. Wenn jemand also schon vor dem Blackout warnt, dann doch eher mit Verweis auf dänischen Windstrom aus auf französischen Atomstrom.

Komischerweise höre ich die Sorge „Ausbau der Windenergie in Deutschland komplett versemmelt – drohen uns jetzt Stromausfälle?“ aber recht selten.

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