So ̶w̶̶i̶̶c̶̶h̶̶t̶̶i̶̶g̶̶ krebserregend wie ein kleines Steak

Ey, total irre! Jetzt mal alle die Klappe halten, ich habe Erschütterndes recherchiert! Also es gibt da Leute in weißen Kitteln, die behaupten, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist – kein Witz! Und die WHO, offenbar irgend so ein Gesundheitsladen, die verbreiten jetzt überall, dass man davon Lungenkrebs bekommen könne. Was soll denn das? Früher haben wir noch viel mehr geraucht und wir leben immer noch… jetzt darf man schon nicht mehr rauchen. Dabei ist mein Großonkel Wilfried schon 94 und raucht jeden Tag eine halbe Stange Rothändle!

Gute Wurst böse Wurst

Liest sich absurd? Jetzt ersetzt „Rauchen“ durch „Wurst essen“ und ihr seid mittendrin in einer vollkommen idiotischen Debatte, die sich seit gestern weltweit durch alle Medien zieht. Dabei ist die Meldung an sich so profan wie die Wettervorhersage für Gütersloh: der Verzehr von verarbeitetem Fleisch erhöht das relative Darmkrebsrisiko um 18% pro 50 Gramm täglich verzehrter Menge (Bei 50 Gramm Wurst pro Tag steigt das Risiko demnach für einen 65 Jahre alten Mann von 2,4% auf 2,8%). Ist jetzt auch keine vollkommen bahnbrechende Erkenntnis, der Verdacht ist nämlich schon recht alt, nur die exakte Bezifferung ist neu. Trotzdem regen sich alle auf als stünde das jüngste Schnitzel-Gericht bevor.

Ich habe seit gestern allein 20 mal gelesen, dass man jetzt nicht mal mehr Wurst essen dürfe. Bin ich der einzige, den das an Pegida-Logik erinnert? Die stehen auf zentralen Plätzen großer Städte herum, rufen laut ihre Meinung in Mikrofone und beschweren sich, man dürfe in diesem Land seine Meinung nicht sagen (während die Polizei aufpasst, dass niemand sie dabei stört). Und seit gestern erklären Leute ernsthaft, dass der Kultur-Kollaps bevorsteht, weil man keine Wurst mehr essen dürfe. Während sie 250 Gramm Salami im Mund haben. Ich möchte da spontan die 112 wählen und mich mit der Notfallseelsorge verbinden lassen.

Ihr könnt doch nach wie vor so viel Wurst essen, wie ihr wollt. Auf der WHO-Liste der krebserregenden Substanzen (Gruppe 1) findet man auch noch Tabakrauch, Asbest, UV-Strahlung und Alkohol. Und dennoch könnt ihr gerne eine Zigarre im Mundwinkel und eine Flasche Wodka intus ohne Sonnencreme nackt auf einer Asbest-Matte in der Wüste Gobi herumliegen, niemand kann euch dafür belangen. Und ja, in die Flasche Wodka dürft ihr auch jetzt noch eine Bifi stippen, viel Spaß. Conchita Wurst muss sich auch nicht in Conchita Tofu umbenennen und in den Filmen mit Kevin Bacon-Beteiligung wird nicht extra der Abspann umgeschnitten.

Auch niedlich die Hinweise, dass solche Aussagen gar nicht machbar seien und überhaupt alle gefälscht sind. Jahrelang darf ich mir anhören, vegan sei per se immer ungesund, weil Fleisch ja bekanntlich ein Stück Lebenskraft sei und die Milch es mache – zumindest laut dem Marketingverband für Fleischwerbung. Aber wenn 22 Experten eine Metastudie über 800 Studien durchführen, dann ist das alles nur fake und überhaupt verursachen ja auch andere Dinge Krebs. Klar, niemand ist perfekt, auch die WHO macht Fehler. Wer bis 1992 Homosexualität als Krankheit führt, der darf sich nicht wundern, wenn man ihm nicht alles blind glaubt.

Ich habe aber gute Argumente, warum Homosexualität keine Krankheit ist. Gute Argumente, dass exzessiver Wurstverzehr unbedenklich ist, sucht man aber bislang vergeblich. Der ebenfalls sehr häufig erwähnte Hinweis, dass man schon ganz viel Wurst gegessen habe, aber trotzdem kerngesund sei, ist ähnlich geistreich wie entsprechende Gleichnisse auf Helmut Schmidts Tabakkonsum. Überhaupt diese Altherren-Logik, dass die heutige Jugend nichts drauf habe, weil sie mit Sitzerhöhungen und rauchfreien Restaurants verweichlicht würde, geht mir derartig auf den Zeiger. Wisst Ihr, warum ihr so was überhaupt sagen könnt? Weil ihr das Glück hattet, nicht in jungen Jahren bei einem Auffahrunfall durch die Windschutzscheibe geschleudert worden oder an einer schlimmen Atemwegserkrankung verendet zu sein.

Da dieses Schicksal aber viel zu viele Menschen ereilt, gibt es Anschnallgurte und Sitzerhöhungen. Und Informationen, dass Rauchen das Risiko für echt beschissene Krankheiten erhöht – auch im Jahr 2015 liegt die 5-Jahres-Überlebenschance für ein Bronchialkarzinom (Lungenkrebs) bei erschreckenden 13% bis 15%. Wenn also die Weltgesundheitsbehörde darüber aufklärt, ist das dann erstrebenswert oder voll blöd, weil man ja dann nicht mehr rauchen darf und andere Dinge ja auch krebserregend sind?

Ja, das macht schon Sinn, diese Information zu verbreiten. Wer will, kann trotzdem rauchen, aber er kennt eben das Risiko, so was nennt sich ein mündiger Bürger. Und genauso ist es nur fair, wenn wir darüber in Kenntnis gesetzt werden, wie der hohe Verzehr von Leberwurst sich auf unser Befinden auswirken kann. Dümmliche Witze darüber, dass man dann halt an was Anderem stirbt, sind übrigens besonders unlustig, wenn im eigenen Umfeld Menschen an Darmkrebs erkrankt sind. Auch wenn man den nicht monokausal auf die Ernährung zurückführen kann, fragt man sich halt oft, ob das anders gelaufen wäre, wenn die omnipräsente Mär vom immer gesunden Fleisch ein wenig in die Schranken verwiesen worden wäre.

Nach der Diagnose hat meine Tante von ihren Ärzten eine Diät mit reduzierten tierischen Lebensmitteln verordnet bekommen. Sie ist dennoch vor 4 Jahren im Alter von 65 Jahren gestorben.

9 Gedanken zu “So ̶w̶̶i̶̶c̶̶h̶̶t̶̶i̶̶g̶̶ krebserregend wie ein kleines Steak

  1. Wie immer schön geschrieben und herrlich ehrlich!
    Mir ist in der Diskussion etwas aufgefallen, wasich nicht ganz einordnen kann, du aber bestimmt schon;) Wenn ein Allesesser 50g Wurst amTag isst, steigt sein Risiko an Krebs zu erkranken um 18%. Heißt aber nicht, dass es mit jedem Tag bzw mit jedem Stück um 18% steigt, oder? Sondern vielmehr, wenn jemand jeden Tag so viel isst, hat er insgesamt sein Risiko um 18% erhöht.. Das ist bisher in allen Artikeln unklar beschrieben und ich hatte noch nicht die Lust dazu, die Studie selbst zu lesen
    LG

  2. Ich habe selber im Familien und bekannten Kreis 2 Menschen Frühzeitig verloren und es war auch ohne Studie Klar woran das ganze Lag. Ein Fleischkonsum und Wurstkonsum das selbst dem Fleischwolf schlecht wird.
    Viele Leute wollen es eben nicht hören. Es ist schon wie mit dem Rauchen (mich erwischt es doch nicht). Interessant finde ich aber auch das in Metzger Familien (Ich komme vom Land und habe da einige kennengelernt) immer wieder das selbe Krankheitsbild zeigt.
    Ob es was am Konsum ändern wird? Ich hoffe es zumindest.

  3. Das Risiko alleine reicht nicht. Der passierte Herzanfall auch nicht. Erst, wenn etwas immer spürbares da ist, das jeden Tag weh tut, dann macht es plötzlich klick. Und plötzlich informiert sich mein zweitfleischigstes Familienmitglied bei mir nach veganem Aufstrich.

    Die Fernsehbeiträge, die ich die letzten tage sah (umschalten zwecklos! kommt überall derselbe beitrag), endeten immer mit dem Satz „Aber sie wissen ja: die dosis macht das gift.“
    Und sogar in der Zeitschrift für Chemiemanager stand, dass fleischlose Kost an mehreren Tagen der Woche dringend notwendig sei. Auch für das Klima und den Welthunger.
    Ich glaube, wir brauchen noch eine Zeit der Empörung, bis es langsam als normal in die Leberwurstköppe sickert. Das tut weh, aber es wird schleichend ankommen.

    Warten wir mal ab, wann wieder eine Artikelwelle zu bösen veganen Würsten mit voll uncoolen Inhaltsstoffen kommt 🙂

  4. Der Vater meiner Freundin ist letzten Monat seinem Darmkrebs erlegen. Ob es was geändert hätte, wenn er in den Jahren der Behandlung, den Fleischkonsum reduziert hätte? Wer weiß, das stand für ihn leider überhaupt nicht zur Debatte.
    Wie dem auch sei, normalerweise würde bei mir und solchen Nachrichten immer ein wenig Schadenfreude aufkommen, aber jetzt hoffe ich einfach, dass wenigstens ein paar sich Gedanken machen. Wenn schon nicht aus moralischen Aspekten, wenigstens aus Selbsterhaltungstrieb :/

  5. Tatsächlich ist die Metastudie der WHO also eher als Entwarnung zu verstehen. Von 10.000 über 65jährigen erkranken also 28 anstelle von 24 an Darmkrebs, so sie denn täglich 50 Gramm Wurst oder mehr davon essen. Klingt irgendwie nicht dramatisch. Aber der überzeugte Wurstesser vermutet sofort vom Weltveganismus gesteuerte Panikmacke, um Fleisch und Fleischerzeugnisse zu verbieten. Da muss man erst Mal drauf kommen (auch wenn die ungenaue Darstellung in vielen Medien zu so einer Interpretation beigetragen hat).
    Jetzt kommt aber mal was ganz Fieses: Die weltweit steigende Lebenserwartung erhöht das Krebsrisiko signifikant. Von 100.000 Menschen erkranken lediglich 200 an Krebs, die unter 65 sind. Bei den über 65jährigen sind es 2000 (also zehn mal so viel). Ja warum hören die nicht einfach auf, so lange zu leben?

    http://www.medizinauskunft.de/artikel/diagnose/Besser_informiert_Onkologie/krebs_krankheit_des_alters.php

    Käme eigentlich jemand aufgrund dieser Information auf die Idee, zu behaupten: Veganer steuern Panikmache und verbieten langes Leben?
    Auf diesem Kindergartenniveau bewegt sich leider die Diskussion in vielen Kommentaren zur sachlichen WHO-Information über Wurstkonsum.

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