Oh, was für ein Glück wir doch haben, dass hart arbeitende Journalisten bei Merkur.de, Punkt 12, Männersache, 20min, blick.ch, heute.at und der Bild-Zeitung sich so mitfühlend um uns Pflanzenfreaks kümmern! Ich weiß, ist schon zwei Wochen her, aber es erscheinen immer noch Meldungen dazu.
Besagte Journalisten hatten knallhart recherchiert, dass wir keine Avocados essen können, weil die gar nicht vegan sind. Beziehungsweise, wir können schon, aber dann sind wir blöde Heuchler, weil für Avocados ja Bienenstöcke zu den Pflanzen gefahren werden. Ja, das ist auf gleich mehreren Ebenen unfassbar dusselig.
Abgeschrieben haben die das alle von einer sich selbst vermutlich nicht so ganz ernst nehmenden Quizsendung der BBC. Dort wird die Frage gestellt, welche der eingeblendeten Lebensmittel man als ein „strict vegan“ essen kann. Ist das jetzt der Maßstab für seriöse Berichterstattung, alberne Quizsendungen aus dem Vorabendprogramm? Nun gut, die eingeblendeten Lebensmittel sind folgende: Mandeln, Avocados, Melone, Kiwi, Kürbis. Die von der „Redaktion“ dieser Sendung vorbereitete Auflösung: Keines dieser Lebensmittel sei strenggenommen vegan, denn für diese würden Bienenstöcke unnatürlich („in an unnatural way“) zu den Pflanzen transportiert.
Rüben gelten also mutmaßlich nur als vegan, wenn die Landwirte das Saatgut mit Mulis auf den Acker transportieren, Traktoren wären einfach zu unnatürlich. Die Moderatorin erklärt zum Abschluss, dass das auch für Broccoli, Kirschen, Gurken und Salat gelte und freut sich anscheinend diebisch darüber, sie schließt mit den hämischen Worten:
„Lots and lots of vegan things actually are not strictly vegan. So… BAD NEWS FOR MILLENNIALS, I’m afraid avocado toast is usually not vegan.“
Irgendwie ist es schon niedlich, wie viele Menschen sich genau null Gedanken darüber machen, wie all ihr Essen produziert wird, aber dann gerne so eine Geschichte aufgreifen, um für sich zu definieren, warum nur die vegan lebenden Menschen unwissende Spinner sind.
Nun sind wir aber nicht so unwissend, wie die Autoren denken: Die Vegan Society definiert Veganismus bereits seit fluffigen 39 Jahren damit, Grausamkeiten gegenüber Tieren zu minimieren, und zwar „as far as is possible and practicable“. Zu Deutsch: „soweit wie möglich und praktikabel“.
Ja, zu 100 Prozent vegan kann man nicht leben in einer Gesellschaft, die zu 99 Prozent nicht-vegan unterwegs ist. Danke für die superhilfreiche Information, aber das wissen wir. Längst! Wir wissen es, seit wir das erste Mal darüber nachgedacht haben, welchen Stellenwert Tiere in unserer Gesellschaft haben. Die Idee und die damit verbundenen Probleme in der Praxis sind so tief in unserem Denken verankert, dass viele von uns ihr Leben danach ausrichten, diese Probleme zu lösen.
Es gibt Menschen, die ohne tierischen Dünger Pflanzen anbauen, innovative Materialien für tierfreie Kleidung einsetzen oder sich darüber Gedanken machen, wie Medikamentenforschung ohne Tierversuche effektiv funktionieren kann.
Versteht Ihr also, wie unfreiwillig peinlich es ist, wenn ausgerechnet Ihr uns erzählt, dass 100-prozentiger Veganismus nicht geht, während wir zeitgleich genau an diesem Problem arbeiten? Ihr seid so Captain Obvious, dass es weh tut. Ihr seid der Grönlandtourist, der dem Inuit-Guide erklärt, wie wichtig warme Unterwäsche ist. Ihr seid der Schnösel, der seiner alleinerziehenden Friseurin erklärt, wie wichtig eine finanzielle Altersvorsorge ist. Würde hartes Augenrollen knallen, Eure blöden Texte würden bundesweiten Krach verursachen.
Ja, für Avocados und auch Mandeln werden Bienen durchs Land gefahren. Das findet Ihr blöd? Dann kauft keine Avocados und Mandeln. Es hilft niemandem, diesen Umstand nur der Bevölkerungsgruppe unter die Nase zu reiben, die ohnehin schon versucht, fair zu Tieren zu sein. Was meint Ihr, warum es bereits im Mai riesige Mengen deutscher Erdbeeren gibt? Weil diese von extra dafür gezüchteten Hummeln bestäubt werden, die bzgl. der Temperatur deutlich robuster als Bienen sind. Wenn das nicht vegan ist, dann sind Haferflocken auch nicht vegan, sobald der Gabelstaplerfahrer in der Fabrikhalle ein Käsebrötchen zu Mittag isst. Da muss Euch echt jemand die Nummer mit den Bienen erklären (nicht die, die andere), damit Ihr das Problem erkennt?
Also, langsam zum Mitschreiben: Dass ein zu 100 Prozent veganer Lebensstil nicht machbar ist, wenn man nicht zufällig Selbstversorger ist, und dass so ziemlich alle Ackerfrüchte in einem Supermarkt potenziell mit Hilfe von Kuhmist oder Hornspänen angebaut wurden, ist keine Neuigkeit. Dieser Umstand hat in aktueller Berichterstattung so viel zu suchen wie die Ergebnisse der hessischen Volleyballregionalliga von 1982. Wenn Ihr es trotzdem abdruckt, als sei es eine insbesondere die vegane Community überraschende Sensation, beweist Ihr nur, wie ahnungslos Ihr seid.
Es schwingt ferner der naive Irrglaube mit, der Boykott eines problematischen Produktes sei nur dann effektiv, wenn einzelne Personen ihn zu 100 Prozent leben. Das ist, mit Verlaub, entsetzlicher Mumpitz: Gerade beim Verzicht auf Tierprodukte lässt sich das Paretoprinzip anwenden, laut dem in bestimmten Fällen 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreicht werden: Streiche ich Fleisch, Milch und Eier von meiner Einkaufsliste, habe ich das von mir verursachte Tierleid bereits stark reduziert. Das konsequente Achten auf tierfreies Shampoo, Schuhe ohne Leder und Pullover ohne Tierwolle ist in der Sache oft aufwändiger und aufgrund der geringen Mengen schwächer in der Wirkung – weswegen ich auch immer mit den Augen rollen muss, wenn für 7-tägige vegane Selbstversuche erst mal 10 Stunden lang recherchiert wird, wo man jetzt ein Stoffportemonnaie kaufen kann.
Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist es noch krasser: Würden die Fleisch essenden ihren Konsum halbieren, hätte das momentan mehr Effekt, als wenn sich die Anzahl der 99-Prozent-Veganer verdoppelte. Es ist also vollkommen plausibel, wenn Letztere sich eher Gedanken darüber machen, wie man schmackhafte pflanzliche Alternativen in der Gastronomie etabliert oder Aufklärungsarbeit betreibt, anstatt sich über Avocadobienen den Kopf zu zerbrechen, um damit womöglich ihre Veganquote von 99 Prozent auf 99,1 Prozent anzuheben.
Und was in aller Welt soll diese bescheuerte Schadenfreude nach dem Motto „Ha-ha, ihr doofen Millennials, Eure Avocado ist gar nicht vegan, solange dafür Bienen benutzt werden!“? Ich bin nun mal keine Biene (und kein Millennial), der Umstand beeinflusst mein Leben nicht sonderlich. Und wieso gibt es diese seltsame Häme nicht bei anderen Ideen, die die Welt verbessern sollen? Ich habe mir vorletztes Jahr ein Fairphone zugelegt, das ist ein Handy, dessen Materialien aus zertifizierten Quellen stammen. Keiner hat mich ausgelacht und gesagt „Haha, aber Deine Jeans, die kommt aus einem Sweatshop in Bangladesh, ist also voll dumm, Dein Fairphone“. Wäre auch recht albern, denn die Idee eines fair hergestellten Handys wird ja nicht schlechter durch unfair hergestellte Jeans. Unmenschliche Arbeitsbedingungen sind ein Argument gegen unfair hergestellte Jeans, nicht gegen fair hergestellte Handys.
Genauso ist der Bienentransport für kalifornische Mandeln kein sonderlich stichhaltiger Grund dafür, Fleisch oder Milch zu konsumieren. Wieso überhaupt glauben diese Leute, die Deutungshoheit über einen Begriff zu besitzen, mit dem sie sich kaum beschäftigt haben? Wieso greifen Journalisten das überhaupt so leichtgläubig auf? Würde Markus Söder von der CSU erklären, man sei kein echter Sozialdemokrat, solange man sich kein Kreuz ins Büro hängt, würde sich niemand darum scheren, denn: Was Sozialdemokratie ausmacht, entscheiden sinnvollerweise Sozialdemokraten. Wir bekämen daher auch nicht die FAZ-Eilmeldung „Kein Kreuz in Büro von Andrea Nahles – wann tritt sie aus der SPD aus?“ aufs Smartphone geschickt.
Aber wenn irgendeine (mutmaßlich Fabrikfleisch konsumierende) Moderatorin der BBC ihre ganz persönliche Definition von Veganismus erfindet, die sich von der eigentlichen Definition („as far as is possible and practicable“) stark unterscheidet, dann erklären mir dutzende Medien, dass ich gar kein echter Veganer bin.
Auch wenn das nicht weniger hirnrissig ist.
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Ohne Euch gäbe es diesen Text jetzt nicht, dafür aber ein toll graues Web-Formular in irgendeinem noch effizienter arbeitenden Ticketsystem 😉
Die Vegane Lobby wird immer stärker, und das psst den „Fleischfressern“ nicht. Deshalb machen so ein Bluff, um Leute die nicht genug informiert sind, vom fleischfreien Leben abzuhalten.
Ich habe ähnliches erlebt mit Vit. D3, welches ich seit ca. 3 Jahren erfolgreich nehme. Auch und gerade hochdosiert. Da war doch tatsächlich eine Sendung im Fernsehen, in der nachdrücklich gewarnt wurde vor hochdosiertem D3. Nur das höher dosierte hilft bei ernsthaften Krankheiten.
L.G. Renate
Ja, nix da! Von wegen Muli. Da würde doch wieder ein armes Tier mißbraucht werden von uns heuchlerischen Veganern. Der unnatürliche Traktor passt da schon besser! Ist ja eh alles nur künstlich in unserer Ernährung. Aber nur solange der Traktor keinen Käfer platt fährt.
*Ironie Off*
Hallo,
fantastisch geschriebener Artikel – vielen Dank dafür, für mein Germanistenherz wahrer Balsam!
Nur habe ich noch eine Nichtveganerin-vielleicht blöde-Frage: Sollte man nicht trotzdem auf Avocados verzichten, die – soweit ich weiß – unheimlich viel Wasser in der Produktion schlucken und um die halbe Welt reisen, bis sie auf unserem Teller landen? Den Aspekt vermisse ich in der sonst so vielseiten Argumentation.
Lieben Gruß von Clara, die deinen Hand zu vielen Bindestrichen teilt
Sry zu schnell getippt. Ich meinte „vielseitigen Argumentation“ und „Hang zu Bindestrichen“