Breaking News: Jugend nicht so grün, wie ein paar alte Männer dachten

Stellt euch vor, bei euch im Büro oder der Fachschaft geht auf einmal das Gerücht rum, ihr nehmet es mit eurer Körperhygiene nicht so genau, weil die Firmen -oder Campuszeitung getitelt hat „Anneliese Unterberg wäscht sich seltener als gedacht!“. Ihr sprintet also zum vierschrötigen Chefredakteur und stellt ihn zur Rede, immerhin duscht ihr ja täglich. „Ach so“, erwidert der, „aber wir DACHTEN halt, du wäschst dich häufiger. Tja, blöd gelaufen.“

Was für ein Glück, dass das ein fiktives Beispiel ist, oder? Nicht auszudenken, wenn irgendwer auf Basis dieser unseriösen Herangehensweise eine Studie herausgäbe, diese allen großen Redaktionen des Landes schickte, welche diesen Quatsch dann unkritisch übernähmen. Genau das ist aber leider passiert. Nur geht es nicht um Körperhygiene, sondern darum, wie „grün“ die heutige Jugend eigentlich ist.

Es ist wohl eine der beliebtesten Geschichten, die meine Generation sich selbst erzählt, um sich die eigene Trägheit in Bezug auf die Klimakrise schönzureden: Weil Jugendliche selbst auch das Klima belasten, sollen sie von der Politik gefälligst keine Klimaschutz-Maßnahmen fordern. Und obwohl die Stichhaltigkeit dieses Arguments nicht wirklich mehr hermacht als „Eierbätsch, selber doof!“, findet sie in der Bevölkerung und vielen Redaktionen gruselig viel Anklang.

Nach dieser naiven Maßgabe dürften sich ja nur Menschen mit perfekter Lebensführung für bestimmte Veränderungen stark machen: Für ein Tempolimit dürfte nur eintreten, wer nie zu schnell fährt. Eine Lebensmittelampel darf nur fordern, wer seinen eigenen Zuckerkonsum unter Kontrolle hat, und für verbindliche Lieferkettengesetze darf nur sein, wer keine Elektronikprodukte zu Hause hat. Also quasi niemand.

Während die meisten Leute euch einen Vogel zeigen würden, wenn ihr solche Bedingungen aufstellen würdet, schlüpft der exakt gleiche Unsinn beim Thema Klimaschutz durch das Logikzentrum vieler Leute. Noch schlimmer: Obwohl junge Menschen in einer Studie Antworten gegeben haben, die eine überdurchschnittlich nachhaltige Lebensweise nahelegen, zitiert die halbe Medienlandschaft diese Studie damit, dass die Jugend nicht so grün ist „wie gedacht“.

Wer da was gedacht hat und ob das vielleicht von Beginn an grandioser Unsinn war, scheint nicht so wichtig. Wir lesen: „Jugend nicht so grün wie gedacht“ (Tagesschau), „Klimaschutz? Aber nicht ohne mein Auto“ (Spiegel), „Studie: Jugend nicht so „grün“ wie angenommen“ (Arte), „Nicht so „grün“ wie gedacht“ (F.A.Z.) „Jugend in Deutschland: Doppelmoral unter dem grünen Mäntelchen“ (Neue Osnabrücker Zeitung), „Jugend nicht so „grün“ wie angenommen“ (Stuttgarter Zeitung).

In den Kommentarspalten wird frohlockt, wie heuchlerisch und blöde die Jugend doch sei, alte Männer ätzen gegen Greta Thunberg, Luisa Neubauer und Carla Reemtsma und überhaupt habe man ja schon immer gewusst, dass von dieser Klimajugend nichts zu halten ist. Tja, pauschal auf junge Menschen schimpfen geht halt immer. Der doppelte Haken an der Sache: Die Ergebnisse dieser Studie lassen den vielfach zitierten Schluss gar nicht zu. Es wirkt so, als hätte keine der genannten Redaktionen sie jemals gelesen.

Was ist das überhaupt für eine Studie? Es handelt sich um eine Trendstudie mit dem Namen „Jugend in Deutschland“, die mittels einer Online-Befragung die Einstellungen von 1014 Personen im Alter von 14 bis 29 Jahren abgefragt hat. Studienleiter ist ein gewisser Simon Schnetzer, laut Studienseite ist er „führender Jugendforscher in Europa“ und hat viele zufriedene Kunden, darunter Google, TikTok, die IG Metall und Kirche (sic). Erstaunlich, dass der laut eigenen Angaben führende Jugendforscher Europas gar kein entsprechendes Studium der Sozialwissenschaften abgeschlossen hat, sondern VWL studiert hat und seine Führungsposition in der Jugendforschung mit dem Wissen aus „Workshops“ erlangt haben will. Zudem ist die Studie nirgends publiziert, außer auf der Homepage von Simon Schnetzer, wo man sie dann auch für 29 Euro kaufen muss, wenn man sie lesen will.

Keine Sorge, ihr müsst sie nicht kaufen, eine sehr nette Supporterin hat mir schneller 30 Euro gespendet, als ich „wollen wir zusammenlegen?“ in die Facebook-Gruppe „Europäische Energiewende“ schreiben konnte. Aber was steht denn nun drin? Wie „grün“ ist die deutsche Jugend und was dachte Simon Schnetzer, wie „grün“ sie ist? Und wieso soll es für eine objektive Beurteilung überhaupt wichtig sein, für wie „grün“ Simon Schnetzer, Jahrgang 1979, die Jugend hält?

Die Studie ist unterteilt in 3 Abschnitte, Corona, Klima, Politik. Teil 2, also Klima, beginnt so:

„Die von Angehörigen der jungen Generation initiierte Umweltbewegung hat in den letzten vier Jahren mit vielen Aktionen auf sich aufmerksam gemacht. Selbst während der Corona-Pandemie hat die Organisation Fridays for Future immer wieder gezielte Kampagnen durchgeführt, um auf die Bedeutung von Umweltschutz und die Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels aufmerksam zu machen.

Hierdurch ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, die junge Generation habe insgesamt ein größeres Interesse an der Sicherung der natürlichen Grundlagen des Lebens als die mittlere und ältere Generation in Deutschland.“

Und diesen Eindruck wollen die Studienautoren nun überprüfen, indem sie das persönliche Konsumverhalten von jungen Menschen untersuchen. Es gibt zwei Gründe, warum dieses Framing hochproblematisch ist:

  1. Es vermittelt der Öffentlichkeit, dass nur solche Menschen politische Veränderung fordern dürfen, die selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

    Wie schon eingangs erwähnt, ist das eine vollkommen naive, nicht praktikable Vorstellung von politischer Teilhabe. Oft sind die Umstände, die wir mit effektiver Klimapolitik zu beseitigen versuchen, ja genau der Grund für unseren hohen persönlichen CO2-Impact. Forderte ich beispielsweise, den ÖPNV auszubauen, wäre es irgendwie nicht zielführend, mir vorzuwerfen, dass ich selbst ja mit dem Auto zur Arbeit fahre. Genau das zu ändern ist ja nun mal das Ziel meiner Forderung.

    Vollends absurd gerät das Ganze, wenn man sich klarmacht, wieviel CO2-Emissionen ähnlich strukturell bedingt sind und damit von uns, den älteren Generationen, mitverursacht werden.

  2. Es vermittelt der Öffentlichkeit, die Klimakrise sei mit persönlichem Verzicht lösbar.

    Ja, jedes eingesparte Gramm CO2 hilft, die Erderwärmung auf ein akzeptables Maß zu reduzieren. Es spricht also nichts dagegen, auch heute schon so klimaschonend wie möglich zu leben, aber als Ansatz zur Lösung der Krise reicht das nicht mal annähernd. Ich persönlich esse keine Tierprodukte, bewege mich zu 90 Prozent mit Füßen und Fahrrad fort, bewohne mit Ökostrom versorgte 34 m² pro Person und dennoch liegt mein Impact bei 4,5 Tonnen CO2 im Jahr.

    Und das bleibt so, solange unsere Gesellschaft noch mit fossiler Energie läuft, da kann ich mich so sehr einschränken, wie ich will. Irgendwann sind Gebrauchsgüter am Ende ihres Lebenszyklus angekommen und dann brauchen wir eben neue Busse, neue Möbel, neue Batterien und neue Heizungen. Die Rohstoffe für diese Gebrauchsgüter werden aktuell fossil aus der Erde gegraben, in Fabriken mit fossiler Energie verarbeitet und dann fossil zu uns transportiert. Sparsam ist nett, aber CO2 wirkt kumulativ. Ohne einen echten Umbau der Gesellschaft ist das also alles nur ein Aufschub des Problems. Das, was in den Kommentarspalten gerne als „Heuchelei der Klimakids“ bezeichnet wird, ist also in Wirklichkeit deren größter, sinnvollster Hebel, um echte Veränderungen zu bewirken.

Das Seltsame daran: Sowohl Schnetzer als auch der Co-Autor Prof. Klaus Hurrelmann scheinen der jungen Generation gegenüber recht wohlgesonnen zu sein und machen in Interviews auf deren schwierig Lage durch gleich mehrere Krisen (Corona, Klima, Politik) aufmerksam. Sie fordern mehr Aufmerksamkeit für deren Themen und mehr Verständnis für ihre von mehreren Seiten bedrohte Lage. Vielleicht können sich die Herren für die nächste Ausgabe ja einen Medienprofi ins Team holen, um der Jugend nicht noch so einen Bärendienst zu erweisen.

Und wenn sie gerade dabei sind, können sie sich vielleicht noch etwas Beratung in Klimafragen einkaufen, denn in der Online-Umfrage werden eine Menge Dinge abgefragt, die mit effektivem Klimaschutz kaum etwas zu tun haben oder bezogen auf die Altersgruppe bizarr anmuten:

„Was tust du konkret, um Klima und Umwelt zu schützen?“

ist die erste Frage und darunter finden sich dann z. B. Antworten wie „Mülltrennung“, „Öko-Strom aus erneuerbarer Energie beziehen“, „Verzicht auf Einweg-Plastik“, „Kompensationszahlungen für CO2-Verbrauch“. Aua:

Quelle: Trendstudie „Jugend in Deutschland – Winter 2021/22″ | N = 1.014, repräsentativ für 14- bis 29-Jährige in Deutschland“, Seite 14

Mülltrennung ist gut, hat aber einen sehr überschaubaren Einfluss auf unsere Klimabilanz. (Echter) Ökostrom ist vermutlich wirklich eins der effektivsten, persönlichen Mittel, aber welche 15-Jährigen haben einen eigenen Stromvertrag (48 Prozent der Befragten leben noch bei ihren Eltern)? Auch die Wirkung von Einwegplastik ist je nach Menge kaum ausschlaggebend (in Bezug auf das Klima) und mit welchem Geld Jugendliche CO2-Kompensationszahlungen leisten sollten, ist mir auch nicht klar. Zudem wird das CO2 emittiert, nicht verbraucht (!).

Die nächste Frage lautet „Welchen Beitrag zum Umweltschutz bist du bereit durch persönlichen Verzicht oder Verhaltensänderung zu leisten?“, die Optionen können mit „ja“, „vielleicht“ und „nein“ beantwortet werden. Eine irgendwie recht hypothetische Fragestellung, denn laut Umfragen sind Deutsche zu einer ganzen Menge Dinge bereit, auch zu Frühsport, anteilig mehr Biofleisch und weniger Autofahrten. Ob sich in der Realität an solche Vorsätze gehalten wird, steht dann auf einem ganz anderen Blatt.

Wie auch immer, die Ergebnisse dieser Frage konnten wir in allen oben verlinkten Artikeln lesen:

Rund ein Viertel (26 Prozent) ist bereit, konsequent auf Fleisch zu verzichten. Dauerhaft auf alle tierischen Produkte verzichten wollen hingegen nur 16 Prozent.

Schrieb die Tagessschau und findet offenbar, dass das recht wenig ist. Ist es? Naja, 26 Prozent antworteten auf die Frage mit „ja“ und weitere 27 Prozent mit „vielleicht“. Es sind also 53 Prozent, die eine Ernährung ohne Fleisch zumindest in Erwägung ziehen, was verglichen mit dem hohen Fleischkonsum der Gesamtbevölkerung ein sensationell hoher Wert wäre. Wie passt das also zum Tagesschau-Claim „Jugend nicht so grün wie gedacht“?

Quelle: Trendstudie „Jugend in Deutschland – Winter 2021/22″ | N = 1.014, repräsentativ für 14- bis 29-Jährige in Deutschland“, Seite 15

Nun, die zählt halt nur die „ja“-Antworten und orientiert sich zudem an der wirklich merkwürdigen Erwartungshaltung des Co-Autors, der sich in Interviews so ausdrückt:

„Die Vorstellung, die wir Älteren haben: Dass sich fast nur vegan und vegetarisch in der jungen Generation ernährt wird und das Auto nicht mehr benutzt wird […]. Umso überraschender war es für mich zu sehen, dass sie eine Minderheitengruppe ist und es noch nicht geschafft hat, die Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen.“

Aha. Wieso geht ein Professor der Soziologie einfach davon aus, in der jungen Generation ernährten sich fast alle vegetarisch oder vegan? Ist nicht genau das etwas, das es im Rahmen soziologischer Forschung herauszufinden gilt bzw. wozu andere Forscher:innen bereits entsprechende Erkenntnisse gesammelt haben? Liest der Mann zur Abwechslung nicht auch mal, was seine Kolleg:innen so erarbeitet haben?

Selbst die Umfragen mit den höchsten Quoten ermitteln in der Gesamtbevölkerung 10 Prozent Vegetarier:innen und 2 Prozent Veganer:innen. Laut der jährlichen Marktanalyse des renommierten Marktforschungsinstituts Allensbach stieg der Anteil der sich vegan ernährenden Menschen von 0,85 Prozent im Jahr 2015 auf 1,13 Prozent im Jahr 2020.

Die Annahme, in der jungen Generation würde sich nur vegan und vegetarisch ernährt, ist also gerade aus soziologischer Sicht eine sehr, sehr steile These. Und im Verhältnis zur Grundgesamtheit aller Deutschen ist das Ergebnis der Studie, dass 16 Prozent der jungen Menschen bereit sind, dauerhaft auf tierische Produkte zu verzichten und weitere 33 Prozent diese Frage mit „vielleicht“ beantworten, ein krasser Kontrast. „Jugend nicht so grün wie gedacht“ ist hier also synonym für „Anteil der sich vegan ernährenden Jugendlichen nur 16-mal größer als bei Älteren“, was genauso plemplem klingt, wie die eigentliche Schlagzeile ist.

Ergänzt wird dieser Themenkomplex in Punkt 3.4 mit der Frage „Wie hast du dich in den letzten 7 Tagen ernährt?“, was die Schwäche der vorherigen Fragestellung offenbart: Rein vegetarisch ernähren sich demnach 15 Prozent der Befragten und rein vegan 4 Prozent (was immer noch eine deutliche Steigerung wäre).

Auch in Bezug auf die Mobilität scheinen sich die Herren hinter dieser Studie derartig in einer absonderlichen Idealisierung der Jugend verheddert zu haben, dass sie von vollkommen erwartbaren Ergebnissen überrascht sind. Gefragt wurde „Wie häufig hast du in den letzten 7 Tagen die folgenden Verkehrsmittel genutzt?“, um dann in den Antworten fröhlich Nah- und Fernverkehr miteinander zu vermischen:

Quelle: Trendstudie „Jugend in Deutschland – Winter 2021/22″ | N = 1.014, repräsentativ für 14- bis 29-Jährige in Deutschland“, Seite 16

So überrascht es eigentlich nicht, dass Fernzug und Fernbus eher niedrige Prozentsätze erreicht. Soll ja gerade während einer Pandemie eine Menge Menschen geben, die innerhalb von sieben Tagen schlicht keine Fernreise unternehmen. Insofern ist fraglich, wie vergleichbar diese Ergebnisse überhaupt sind. Aber zurück zur nicht so grünen Jugend:

Auffällig sei laut den Autoren, dass 40 Prozent der Befragten täglich oder mehrfach mit dem eigenen Auto unterwegs gewesen seien. Die starke Häufigkeit der Nutzung des Autos mache „unzweifelhaft deutlich, welche Schlüsselrolle diesem Verkehrsmittel nach wie vor zukommt.“ Fun Fact: 21 Prozent der Befragten waren jünger als 18, vermutlich ist der Prozentsatz unter den 18- bis 29-Jährigen also noch mal ein paar Prozentpunkte höher.

Aber gut, die Herren Schnetzer und Hurrelmann finden ja schon 40 Prozent „auffällig“ viel. Die 40 ist zugegeben eine große Zahl, sogar größer als 39 und 38,5 (das muss man sich mal vorstellen) und damit quasi der Beweis für eine nicht so grüne Jugend. Aber nur um ganz sicher zu gehen: Wie viel Prozent der Deutschen benutzen das Auto denn mindestens dreimal pro Woche? Leider gibt es aufgrund der Antwortmöglichkeiten keine guten Vergleichsdaten für exakt diese Frage, aber bezogen auf die tägliche Nutzung gibt es sie: Während 18 Prozent in der Jugendstudie angaben, fast täglich ein Auto zu benutzen, liegt dieser Prozentsatz in der Gesamtbevölkerung bei 50 Prozent (Quelle: „Mobilität in Deutschland, Seite 56)“.

Quelle: Mobilität in Deutschland, Seite 56

Unter den jungen Deutschen finden sich verglichen mit der Gesamtbevölkerung also nur gut halb so viele Menschen, die mindestens dreimal pro Woche mit dem Auto unterwegs ist, und trotzdem wird ihnen vorgeworfen, nicht grün genug zu sein?! Was für ein seltsames Anspruchsdenken ist hier am Werk, das von einer jungen Generation fordert, all die Dinge konsequent zu 100 Prozent zu unterlassen, die von den älteren Generationen frenetisch zelebriert werden?

Junge Menschen werden hier in eine Gesellschaft hineingeboren, die verrückt nach Tierfleisch und Autos ist, die vegetarische und vegane Ernährung künstlich verteuert und bekämpft und Mobilität ohne Auto irrwitzig verkompliziert und gefährlich macht. Und jetzt finden zwei Forscher heraus, dass diese ihre Fleisch- und Autonutzung dennoch viel stärker einschränken als wir Älteren das tun, und dennoch meckern die jetzt, dass das nicht genug sei. Uff.

Es ist, als würden ein paar Eltern ein Kinderzimmer mit Süßigkeiten und Fanta vollstellen, das Obst im Keller aufbewahren und dann beobachten, dass das Kind trotzdem in den Keller geht und sich da regelmäßig Obst und Leitungswasser holt. Und dann kommentieren sie es auf Facebook mit „Unser Kind ernährt sich nicht so gesund wie gedacht“, haben dabei selbst 200 Gramm Gammelfleisch im Mund und bekommen von allen Freunden und Bekannten Recht, wie verwahrlost die Jugend doch ist. Wie wenig souverän kann ein Jahrgang mit den eigenen Fehlern umgehen? Meine Generation: Ja!

37,5 Prozent der Befragten von „Jugend in Deutschland“ leben übrigens in Dörfern und Kleinstädten und haben dann dieselben Probleme wie wir Älteren: kaputtgesparter und teurer ÖPNV, kaum Radwege, kaum Sharing-Angebote, aber feste Uhrzeiten, zu denen es in Uni, Berufsschule oder am Arbeitsplatz zu sein gilt. Wer ein System aufbaut, in dem viele Menschen von privatem Autobesitz abhängig sind, was passiert dann wohl? Richtig, viele Menschen kaufen sich ein Auto. Weil sie es müssen.

Oh, auch unter jungen Menschen wollen nicht alle auf Flugreisen verzichten? Ob das daran liegt, dass ein spontaner Flug von Frankfurt nach Berlin oft billiger ist als eine Zugfahrt und die Züge auf dem kontinuierlich zusammenschrumpfenden Schienennetz regelmäßig ausfallen?

Da es bei „Jugend in Deutschland“ angeblich um die Einstellung zum Klimaschutz geht, wäre es da nicht vielleicht noch mal spannend zu sehen, wie viele dieser jungen, ach so ungrünen Menschen elektrisch unterwegs sind? Nein, Auto ist Auto, scheinen sich die Macher gedacht zu haben. Dass die Umfrage zwischen klassischen Fahrrädern und E-Bikes unterscheidet, aber nicht zwischen Erdöl- und Elektroautos, rundet das seltsame Gesamtbild ab.

Als wäre das alles nicht schon konfus genug, ließen sich die beiden Forscher von allen möglichen Medien dazu interviewen und stellen es (unbeabsichtigt?) so dar, als sei die heutige Jugend inkonsequent. Der Klimawandel sei die größte Sorge der Jugend (wird von 56 Prozent als solche genannt), lassen sie sich z. B. von der Tagesschau zitieren, dennoch sei die „Bereitschaft gering, auf das eigene Auto oder Flugreisen zu verzichten.“ Es ist zum Wegrennen.

Sie ist halt nicht gering, sie ist (laut den vorliegenden Zahlen) doppelt so hoch wie der Durchschnitt. Was sollen die jungen Deutschen denn machen? Alle in Erdlöcher ziehen, um den unrealistischen Ansprüchen von zwei Forschern zu genügen, deren Generation mit diesem ganzen Unsinn erst angefangen und bislang auch nicht aufgehört hat?

Wie viel Prozent Autoverweigerer hätten es denn sein müssen, damit der Anspruch auf Einhaltung des Pariser Klimaabkommens von zwei Männern Jahrgang 1944 und 1979 als adäquat angesehen wird? Ich meine, ich bin ja kein Soziologe, aber nur weil die Jugend die Generation mit der größten Sorge vor der Klimakrise ist, heißt das ja nicht, dass alle jungen Menschen diese Sorge gleich teilen (und schon gar nicht, dass sie alle konsequent handeln). Woher ich das weiß? Aus den Zahlen der Studie: Von allen Befragten gaben lediglich 23 Prozent an, sich regelmäßig für Klimaschutz zu engagieren. 16 Prozent wählen FDP, 10 Prozent wählen CDU/CSU und 6,5 Prozent wählen die AfD.

Wie kann irgendwer bei solchen Zahlen davon ausgehen, die Jugend würde sich „fast nur vegan und vegetarisch ernähren und das Auto nicht mehr benutzen“ und dann die Ergebnisse seiner Studie aus der Perspektive dieser Fiktion heraus beurteilen?

Die Tagesschau formuliert das alles noch einen Tick verzerrender: 18 Prozent haben die Fragestellung „Welchen Beitrag zum Umweltschutz bist du bereit durch persönlichen Verzicht oder Verhaltensänderung zu leisten?“ bezogen auf „dauerhafter Verzicht auf ein eigenes Auto“ mit ja beantwortet und 28 Prozent mit „vielleicht“. Daraus macht die Tagesschau: „Mehr als 80 Prozent können sich ein Leben ohne Auto nicht vorstellen“.

Die meisten Medien (Tagesschau, Spiegel, Arte, Zeit, Stuttgarter Nachrichten) zitieren auch ohne jede Einordnung die Formulierung:

„Der größte Gegenspieler von Veränderung ist die Komfortzone des Wohlfahrtstaats, in der sich die jüngere Generation nach dem Vorbild ihrer Eltern bequem eingerichtet hat. […] Die große Mehrheit ist noch nicht bereit, die lieb gewordenen Gewohnheiten in den Bereichen Konsum, Mobilität, Ernährung aufzugeben und wartet erst einmal auf Entscheidungshilfen durch die Politik.“

Im Wohlfahrtsstaat? Was hat der denn mit (zu wenig) Klimaschutz zu tun? Mini-Exkurs: Der Wohlfahrtsstaat gewährleistet unsere sozialen Grundrechte, kümmert sich also um unsere Absicherung in Form von z. B. Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung und ist damit das Gegenmodell zur individuellen Eigenvorsorge, bei der solche Dinge eigenverantwortlich geregelt werden müssen. Eine private Krankenversicherung hat mit Klimaschutz aber weniger zu tun als Andreas Scheuer mit Anstand, was soll diese groteske Formulierung also?

Und wieso hat die junge Generation sich darin „bequem“ eingerichtet? Ist es nicht besonders die junge Generation, die erst ein Dutzend unbezahlte Praktika absolvieren muss, bevor sie eine sozialversicherungspflichte Anstellung bekommt, und die alles andere als sicher sein kann, mit den Bezügen aus der Rentenkasse ihren Ruhestand finanzieren zu können?

Und noch mal: Es ist vollkommen egal, wie sehr die junge Generation sich in Bezug auf Konsum, Autos und Ernährung einschränkt, solange eine Armee älterer Menschen mit einem vielfach höheren Budget einen viel größeren Klimaschaden anrichtet, als gäbe es kein Morgen, und den Umbau unserer Gesellschaft weg von fossiler Technologie blockiert. In dieser Situation ist es daher das Klügste und Effektivste, so viel Druck auf Gesellschaft und Politik auszuüben, wie es geht.

Solange das System selbst klimafreundliches Verhalten bestraft und verteuert, ist es illusorisch anzunehmen, der Anteil sich freiwillig einschränkender Menschen klettere irgendwann auch nur in die Nähe von 50 Prozent. Und selbst wenn er bei 100 Prozent wäre: Auch sich einschränkende Menschen brauchen ein Minimum an Ressourcen, um Grundbedürfnisse zu decken: Beheizter Wohnraum, Bildung, Medizin, Strom, Lebensmittel, Produkte des täglichen Bedarfs, Kleidung etc.

Solange diese Dinge alle aus fossiler Energie stammen, ist Verzicht allein keine Lösung, sondern nur eine verlängerte Galgenfrist, bis den jungen Menschen dann doch irgendwann die Kipppunkte um die Ohren fliegen. Ein Umstand, den ein Medium ja ruhig mal ansprechen könnte, wenn die Studie des „führenden Jugendforschers Europas“ mit solchen Worten beworben wird. Keines der genannten Medien hat nachgefragt.

Wie gesagt, Professor Hurrelmann scheint sich als Verbündeter der Jugend zu verstehen, so oft wie er betont, unter welch schwierigen Bedingungen diese sich im Spannungsfeld zwischen Pandemie, ökologischen und ökonomischen Krisen befindet und wie solidarisch sie sich mit den von Covid-19 bedrohten Risikogruppen verhalten hat. Vielleicht will er mit Aussagen wie

„Unter diesen Umständen kann der von jungen Leuten mehrheitlich befürwortete Klimaschutz nur mit klaren Regeln und Vorgaben durch die Politik gelingen.“

dafür werben, es nicht der Jugend allein zu überlassen, das Klima zu retten (anders kann ich mir das nicht erklären).

Diese Wirkung verfehlt er jedoch. Durch einen mutmaßlichen Bärendienst epischen Ausmaßes gewinnt eine riesige Leserschaft den Eindruck, die Jugend stelle anmaßende Forderungen, sei bequem, verwöhnt und würde ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Dabei fordert sie einfach nur die Einhaltung des rechtlich bindenden Pariser Klimaabkommens, um massive Verwerfungen zu verhindern. Der Beitrag der Tagesschau wird hämisch in der Anti-Fridays-for-Future-Bubble geteilt und dort dutzendfach mit Aussagen wie „Wasser predigen, aber Wein saufen“ kommentiert.

Sorry, liebe Jugend. Meine Generation ist unfähig, das Klima zu stabilisieren, und sinnvolle Berichterstattung kann sie auch nicht mehr.

_____________________________________________________________________________

Dieser Text wäre nicht zu Stande gekommen, wenn mich nicht viele großzügige Menschen unterstützen würden, die zum Dank dafür in meiner Hall of Fame aufgelistet sind.

Damit der hiesige Blogger sein Leben dem Schreiben revolutionärer Texte widmen kann ohne zu verhungern, kannst Du ihm hier ein paar Euro Unterstützung zukommen lassen. Er wäre dafür sehr dankbar und würde Dich dann ebenfalls namentlich erwähnen – sofern Du überhaupt willst.

Mit diesen 4 Tricks sät der aktuelle Spiegel unlautere Zweifel an der Energiewende

Das Traurigste an der neuen Spiegel-Geschichte ist nicht, dass das Hamburger Verlagshaus seinen klimafeindlichen Leitartikel ausgerechnet zum Weltklimagipfel veröffentlicht. Das Traurigste ist auch nicht, die wievielte Wiederholung des immergleichen Fehlschlusses das ist, oder dass ich, ein BWL-Typ mit grafisch dringend mal überarbeitungswürdigem Blog, das Werk professioneller, preisgekrönter Vollzeit-Journalisten kritisch einordnen muss. Das Traurigste ist, wie gut das hätte werden können, wenn ein Verlag mit der Reichweite des Spiegels dieses Thema mal ernsthaft und differenziert angegangen wäre. Stattdessen bekamen wir das:

Allein, dass ich „dieses Thema“ schreibe, ist eine maßlose Untertreibung. Es ist DAS Thema: Wie verhindern wir die Klimakrise? Es hätte – bzw. wir hätten – verdient, dass sich ein Team extrem aufgeweckter Journalist:innen über Wochen in ein abgelegenes Chalet zurückzieht und mit nicht weniger als einem Meisterwerk an Ausgewogenheit und Aktualität zurückkehrt. Für andere Themen wie die Verwerfungen im Springer-Konzern oder den Rückzug des Westens aus Afghanistan gibt es ja auch umfangreiche, brillante Artikel, nur dass die Bedeutung dieser Themen – wenn auch unzweifelhaft relevant as f**k – im Schatten der Klimakrise zusehends zusammenschrumpft.

Aber anstatt zum Königsthema unserer Zeit ein ähnlich differenziertes Werk abzuliefern, bekommen wir in der Geschichte „Raubbau für die Rettung des Planeten“ leider nur den zehnten Aufguss des hochgradig problematischen Framings, in dem klimafreundliche Technologien durch die verzerrende Brille einer Perfect Solution Fallacy betrachtet werden, also gemessen an einem unerreichbaren Ideal. Was nur scheitern kann.

Der Fehlschluss ist so alt wie gravierend: Anstatt eine Lösung nach realistischen Maßstäben zu bewerten, wird so getan, als gäbe es eine perfekte Alternative, die Perfect Solution. Jede Lösung, die das Problem nicht optimal und ohne unerwünschte Nebeneffekte löst, wird als unperfekt zurückgewiesen, selbst wenn sie klar die beste verfügbare Option darstellt. Typisch für solche Betrachtungen ist, dass die Nachteile der Lösung lang und breit diskutiert werden, ohne konkret zu vergleichen, welcher Schaden denn überhaupt ohne diese Lösung entsteht.

Mit dieser Herangehensweise lassen sich wunderbar Beiträge schreiben, die jede noch so sinnvolle Errungenschaft der Menschheit scheinbar plausibel in Frage stellen, denn perfekte Lösungen sind in der realen Welt rar. Ihr könntet z. B. eine Dokumentation über eine Frau drehen, die eine Sinusvenenthrombose in Folge der Astra-Zeneca-Impfung nicht überlebt hat. Darin sehe ich als Zuschauer, wie schwer es für die Familie ist, mit dem Verlust umzugehen. Im Interview kämpft die kleine Schwester mit den Tränen, die Eltern berichten von der Therapie, die sie machen. Ein paar Schwarzweißfotos der Verstorbenen erscheinen, die traurige Klaviermusik weicht ein paar düsteren Disharmonien, das Bild wechselt zu einem Arzt mit einer Spritze. Ende.

Wäre das guter Journalismus? Hey, ich berichte ja nichts Falsches, es hat sich alles genau so zugetragen. Ja, hat es, aber indem ich gar nicht auf den Nutzen der Impfung eingehe, verzerre ich das Risiko an dieser Stelle massiv: Viele Millionen Menschen wurden mit dem auf den etwas sperrigen Namen hörenden Vaxzevria-Impfstoff gegen Covid-19 geimpft, davon sind [EDIT: z.B. in Großbritannien] 19 verstorben. Gleichzeitig konnten aber allein in Deutschland geschätzt 38.300 Todesfälle durch die Impfkampagne verhindert werden, von denen ironischerweise auch eine Menge auf Sinusvenenthrombosen hätten zurückgeführt werden müssen (das Risiko für eine solche ist nach einer Covid-19-Infektion um den Faktor 100 erhöht).

Die Perfect Solution, ein effektiver Schutz vor der Erkrankung ohne Impfung, existiert schlicht nicht. Ja, schade. Sorry, that’s life. Wir können zwischen Optionen wählen, von denen manche besser und manche schlechter sind, aber Perfektion? Spielt im realen Leben abgesehen vom Gitarrensolo in Comfortably Numb leider keine Rolle. Und obwohl das eine absolute Binsenweisheit und eigentlich der Rede nicht wert ist, haben fünf Journalisten des Spiegels nun eine Geschichte geschrieben, die konsequent aus der Wahnvorstellung heraus erzählt wird, es gäbe eine perfekte Lösung, um 7,8 Milliarden Menschen mit Energie zu versorgen. Spoiler: Gibt es nicht bzw. noch nicht.

Gab es aber auch noch nie. Selbst als unsere frühesten Vorfahren sich für die benötigte Wärme zu 100 Prozent regenerativ mit Holz oder Mist versorgten, hatte das ärgerliche Auswirkungen auf ihre Atemwege (ja, so ein offenes Feuer ist romantisch, aber eure Lungenbläschen sehen das anders). Je größer die Bevölkerung wurde, desto schwieriger war die nachhaltige Versorgung mit Holz als Brennstoff, und so wich Holz mehr und mehr der Kohle, deren Emissionen dann bei entsprechender Wetterlage schon mal tausende Menschen in London tödlich vergiften konnten. Dass unsere Abhängigkeit von Erdgas, Kohle und Erdöl zudem ein paar wirklich unerfreuliche Auswirkungen auf unsere Atmosphäre hat, muss ich hier vermutlich niemandem erzählen.

Aber solltet ihr irgendwann mal im Zug neben Jens Glüsing, Simon Hage, Alexander Jung, Nils Klawitter oder Stefan Schultz sitzen, dann erzählt es doch am besten mal denen. Vor lauter knallharter Recherche, welche Rohstoffe in einer Energiewende zum Tragen kommen, scheinen sie nämlich komplett vergessen zu haben, dass auch unsere heutige Energieversorgung bereits darauf basiert, dem Erdreich gigantische Mengen Material abzutrotzen, nur eben um Größenordnungen mehr.

Will ich damit sagen, dass wir Bergbau für klimafreundliche Technologie nicht kritisieren dürfen, weil er ja einem höheren Ziel dient? Natürlich nicht. Grundsätzlich wäre es großartig, wenn der Fokus sich im Zuge der Diskussion so weit verschiebt, dass es in Zukunft effektive Lieferkettengesetze gibt. Das Problem: Der Spiegel-Text liest sich so, als sei Bergbau grundsätzlich ein vollkommen neues Konzept, das jetzt spontan für die Energiewende neu erfunden worden ist – dabei ist er ungefähr so allgegenwärtig wie Hausstaub. Macht mal einen Test: Guckt euch dort um, wo ihr diesen Text gerade lest und sucht den ersten künstlichen Gegenstand, der ohne Zuhilfenahme von Bergbau hergestellt wurde. Nein, ich finde auch keinen (selbst euer alter Holzfußboden dürfte mit Metallgegenständen bearbeitet worden sein).

Zugegeben, die Spiegel-Leute machen das rhetorisch recht geschickt. Müssen sie ja auch, immerhin verbraucht die Menschheit jährlich 5,4 Milliarden Tonnen Kohle, 4,6 Milliarden Tonnen Erdöl und 3,6 Billionen m³ Erdgas. Vor dem Hintergrund kommt die Warnung vor zu viel Rohstoffverbrauch für Windkraftanlagen dem Versuch gleich, die Feuerwehr zu überzeugen, den Einsatz an einem brennenden Krankenhaus abzubrechen, um erst das Dixi-Klo in eurem Vorgarten zu löschen. Das geht natürlich nicht ohne Tricks:

Trick 1: Große Zahlen klingen unheimlich, sind ohne Kontext aber wertlos

Die Autoren von „Raubbau für die Rettung des Planeten“ werfen mit allerlei Zahlen um sich, wo auf der Welt wie viel Tonnen von was verbraucht wird. Nun ist gegen Zahlen an sich natürlich nichts einzuwenden, ich nutze selbst ständig welche, aber ohne Einordnung dürfte den wenigsten Leser:innen klar sein, was sie bedeuten. Habt ihr auch nur eine grobe Vorstellung davon, wie viel 67 Tonnen Kupfer, 50.000 Tonnen Erde, 11 Tonnen Silber oder 32.000 Giftseen sind? Diese Zahlen sollen nicht wirklich informieren, sie sollen dem Publikum nur vermitteln: Das ist alles viel zu viel! Zitat:

„Rund 67 Tonnen finden sich in einer mittelgroßen Offshore-Turbine. Um diese Menge Kupfer zu gewinnen, müssen Bergleute fast 50.000 Tonnen Erde und Gestein bewegen, das entspricht dem fünffachen Gewicht des Eiffelturms. Das Geröll wird geschreddert, zermahlen, gewässert, gelaugt. Viel zerstörte Natur für ein wenig Grünstrom.“

Das ist beim Spiegel recht beliebt, wenn etwas als bedrohlich geframet werden soll. Ende August lautete eine Überschrift dort auch „Das Milliardengeschäft mit der Hafermilch“, was irgendwie sensationell klingt, in einem Land mit einer 83-Millionen-Bevölkerung aber nur bedeutet, dass Deutsche dafür im Schnitt pro Monat und Person einen Euro ausgeben. Aber hey, Milliardengeschäft, da muss doch was faul sein bei so viel Geld!

50.000 Tonnen Erde und Gestein, so lernen aufmerksame Leser:innen, das entspricht dem fünffachen Gewicht des Eiffelturms. Ui. Und in einem Tesla Model S sei so viel Lithium verbaut wie „in ungefähr 10.000 Handys“, wird später noch erklärt. Ja, schlechte Nachrichten für alle, die die wenig einfallsreichen Vergleichseinheiten „Fußballplatz“ und „Badewanne“ schon genervt haben: In Zukunft rechnet die Rumpeljournaille für das maximale Bedrohungspotenzial in Eiffeltürme und Handys um, weil das ja so anschaulich ist.

Aber nicht mal das scheint hier zu reichen: Um ganz sicherzugehen, dass Kupfer sich als die umweltschädlichste Ressource schlechthin im kollektiven Gedächtnis einnistet, wird die Zahl noch mal schnell in einen fluffigen Slogan eingebaut, der in der Form gut auf ein AfD-Facebook-Sharepic passen würde:

„Viel zerstörte Natur für ein wenig Grünstrom“

Vorteil: Bleibt gut hängen. Nachteil: Ist komplett falsch.

Die viele „zerstörte Natur“ ist auf einem Bild im Artikel selbst zu bewundern, besagte Mine liegt im trockenen Grenzgebiet der Atacama-Wüste mit der gemutmaßten Artenvielfalt eines dieser lebensfeindlichen Star-Wars-Sandplaneten. Ob ein weiterer Abbau an dieser Stelle, an der ohnehin nur ein riesiger Krater die Kupferförderung der letzten 105 Jahre bezeugt, nun wirklich großen Schaden an der Natur verursacht, darf bezweifelt werden. Aber viel wichtiger: Sind 50.000 Tonnen Erde eigentlich viel oder wenig?

Aufgrund des bekloppten Vergleichs könnte man jetzt intuitiv annehmen, es handele sich um einen Erdhaufen fünfmal so groß wie der Eiffelturm, aber der verteilt sein Gewicht aufgrund der hübsch filigranen Bauweise ja auf viel mehr Volumen als ein Erdhaufen. Für eine grobe Vorstellung: Wenn die Monster-Truck -Show „Monster Jam“ in einem Stadion stattfindet, werden dort laut Veranstalter 5.000 Tonnen Erde verteilt, also ein Zehntel. Das sieht dann so aus:

Ja, der Eiffelturm ist dann doch etwas imposanter. Und noch wichtiger: Wie viel oder wenig ist denn „wenig Grünstrom“ aus dem Claim „Viel zerstörte Natur für ein wenig Grünstrom“? Leider verlinkt der Spiegel hier keinerlei Quellen (Moin nach Hamburg, wir haben 2021), so dass auch nicht klar ist, woher die angeblichen 67 Tonnen Kupfer für eine mittelgroße Offshore-Anlage stammen. Laut Europäischer Kommission entspricht das Kupfer in einer WEA-Gondel einem Prozent des Turbinengewichts. Bezogen auf eine „mittelgroße“ Offshore-Anlage, wie sie z. B. im Trianel Windpark Borkum installiert sind, entspräche das eher 3 Tonnen Kupfer. Natürlich wird auch für die Verkabelung Kupfer benötigt, aber die von mir angefragten Branchenexperten halten die 67 Tonnen für um den Faktor 3 zu hoch angesetzt.

Ja, die Anlage besteht aus mehr als nur Kupfer, und gerade Offshore-Anlagen sind aufgrund ihres Fundaments äußerst schwere Konstruktionen. Aber selbst, wenn wir dafür realistische 1.000 Tonnen Material annehmen, ist das für so eine Anlage – verglichen mit fossiler Technik – sensationell wenig: Zum Vergleich: Für 1.000 Tonnen Kohle müssen wir im Braunkohletagebau Garzweiler 5.000 Tonnen Erde abbauen, ein modernes Braunkohlekraftwerk erzeugt daraus bei guter Kohlequalität 17,2 Gigawattstunden Strom.

Eine der 1000-Tonnen-Windkraftanlagen im Windpark Borkum (EAD5-116-Anlagen der Firma Adwen) generiert im Laufe ihrer 25 Jahre Betriebsdauer hingegen knapp 500 (!) Gigawattstunden Strom, also etwa das 30-Fache. Der Abbau von Kohle verursacht zudem massive Luftverschmutzung, zwingt tausende Menschen zur Umsiedlung, übersäuert den Boden und schädigt Feuchtgebiete. Die reine Bergbau-Bilanz einer Windkraftanlage ist also dramatisch besser als wenn ich dieselbe Menge Strom mit Kohle erzeugen wollte, und da sind die massiven Umweltschäden durch die Klimabelastung dieser albernen Veranstaltung noch gar nicht berücksichtigt.

Zudem wird das Windrad nach verrichteter Arbeit halt auch nicht verbrannt wie Kohle, so dass wir aus vielen Einzelteilen – tadaaaa – nach den 25 Jahren Lebensdauer einfach eine neue Windkraftanlage bauen können. Die ca. 20 Tonnen Kupfer können also an der Erzeugung von noch viel mehr Strom beteiligt sein, wenn sie einfach immer wieder in neuen Anlagen verbaut werden, und viele 1.000 Gigawattstunden Strom erzeugen. Die 1.000 Tonnen Braunkohle sind hingegen einfach weg, nachdem sie in 17,2 Gigawattstunden Strom und eine Menge Klimagase umgewandelt wurden. Und für die nächsten 17,2 Gigawattstunden müssen wir wieder 1.000 Tonnen Braunkohle aus der Erde holen.

Bei genauem Hinsehen zerbröselt der Claim „Viel zerstörte Natur für ein wenig Grünstrom“ also ähnlich fulminant wie Julian „Wir haben Corona besiegt“ Reichelts Einschätzung zum Ende der Pandemie. Es ist nicht viel zerstörte Natur und es ist eine gewaltige (!) Menge Grünstrom, die wir mit einem Zwanzig-Tonnen-Klumpen Kupfer in den kommenden Jahrhunderten mittels effektiven Recyclings erzeugen können. Das ist um Größenordnungen mehr als der gleiche Bergbau-Schaden in einem fossilen System ermöglicht.

Ja, es ist ein Eingriff in die Natur. Willkommen in der tristen Wirklichkeit, in der Metalle nicht einfach von der Flut angespült werden. Aber ob „brutal“ das richtige Wort dafür ist? Wenn Kupferabbau auf einem ohnehin schon lebensfeindlichen Mad-Max-Gedächtnisareal brutal ist, was ist dann ein Braunkohletagebau, der sich für viel weniger nutzbare Energie pro Kubikmeter Erde durch historische Ortskerne, Kirchen aus dem 19. Jahrhundert und tausende Jahre alte, ökologisch hochwertige Mischwälder frisst? Ultra-Violence?

Dieses Spielchen spielen die Spiegel-Journalisten nun immer wieder mit abwechselnden Rohstoffen. Wir lernen, wie viel Treibhausgase die Förderung einer Tonne Neodym emittiert, wie viel Silber in PV-Modulen verbaut ist, dass in neuen Technologien Nickel, Platin und Iridium zum Einsatz kommen und wie in Afrika Aluminium gefördert wird. Das ist nun alles grundsätzlich wissenswert, aber als Basis für eine sinnvolle Bewertung unserer realistischen Optionen krass unvollständig, solange all diese Zahlen nicht mit unserem heutigen fossilen Energiesystem ins Verhältnis gesetzt werden. „19 Tote durch Impfstoff-Nebenwirkung“ klingt halt deutlich bedrohlicher ohne die Information „Fünf Millionen Corona-Tote“.

Es ist mir schleierhaft, wie jemand überhaupt annehmen kann, es würde wenig Ressourcen benötigen, wenn ich Sachen aus der Erde grabe, daraus ein Kraftwerk baue, und dann jeden Tag noch mehr Sachen aus der Erde grabe, um sie darin zu verbrennen. Das ist das grundsätzliche Wesen fossiler Technik: Wir VER-brauchen den ganzen Tag aus der Erde gebuddeltes Zeug, während ich bei erneuerbarer Technik die Rohstoffe eben nur einmal aus der Erde buddele und dann GE-brauche. Mit dem entscheidenden Vorteil, dass sie anschließend nicht in ihren molekularen Bestandteilen durch die Atmosphäre wabern, sondern immer wieder genutzt werden können. Wer daraus den Take macht, dass wir für Erneuerbare viel Bergbau benötigen, hat diesen Zusammenhang, den man selbst Grundschulkindern in einer Folge Sendung mit der Maus vermitteln könnte, wohl nicht im Ansatz begriffen.

Trick 2: Emotionen anstatt konkrete Zahlen

Noch besser als Zahlen ohne Kontext wirken maximal aufgeladene Begriffe. Wenn ich einen Impfstoff in einem Beitrag immer wieder „gefährlich“ nenne, dann wirkt das auf viele Menschen stärker als eine Statistik des RKI mit einer Risikoabwägung. Eine Information wie „da verbrauchen wir 67 Tonnen Kupfer“ ist für alle Menschen außerhalb der Kupferbranche vermutlich recht abstrakt. Um also die Energiewende als DEN Faktor für den Raubbau der Zukunft in Szene zu setzen, ohne dafür Zahlen zu recherchieren, die das auch belegen, ist der Artikel mit einer Menge aufgeladener Adjektive durchsetzt:

Windkraft, solare Stromerzeugung und elektrische Mobilität seien wahrweise „schmutzig“, „extrem belastend“ und „verheerend“. Der „gigantische Materialbedarf“ dafür „verschlingt unfassbare Mengen“ und „extreme Massen an Ressourcen“, die resultierenden Zerstörungen an der Natur sind „brutal“, „enorm“, „immens“. Wie viele Spiegel-Leser:innen prüfen das wohl nach? Hey, das sind ja 67 Tonnen Kupfer pro Anlage – ob das wohl viel ist? Ach, laut Text ist es extrem, enorm und brutal, das reicht mir, Windkraft ist ganz umweltschädlich, werden sich viele denken.

„Ein Elektroauto benötigt sechsmal mehr kritische Rohstoffe als ein konventionelles Fahrzeug, vor allem Kupfer, Grafit, Kobalt und Nickel für das Batteriesystem. Eine Onshore-Windkraftanlage enthält sogar rund neunmal mehr solcher Rohstoffe als etwa ein Gaskraftwerk vergleichbarer Leistung“

Zudem bekommen viele der thematisierten Rohstoffe vom Spiegel das Attribut „kritisch“ verbraten, ohne dass irgendwann erklärt wird, was einen kritischen Rohstoff von einem unkritischen unterscheidet. Praktisch, dann kann der geneigte Autor einfach „ein Elektroauto benötigt sechsmal mehr kritische Rohstoffe als ein konventionelles Fahrzeug“ formulieren, denn Erdöl und Erdgas scheinen ja eine recht unkritische Angelegenheit zu sein. Gut, dafür werden aktuell kanadische Waldflächen so groß wie ganz England in ein Real-Life-Mordor verwandelt, aber hey, Hauptsache jemand tut was gegen diese schlimmen E-Autos voller kritischer Rohstoffe.

Das funktioniert übrigens sehr gut zusammen mit…

Trick 3: Möglichst viele Missstände aufzählen, die mit dem Thema nur bedingt was zu tun haben

Genau genommen ist schon das Kupferthema nicht sonderlich gut geeignet, um daraus einen monokausalen Windkraft-Nachteil zu stricken: Im Jahr 2020 wurden weltweit 20 Millionen Tonnen Kupfer produziert. Um die Größenordnungen zu begreifen: Das bedeutet, dass die Menge an Kupfer, das in den letzten 30 Jahren in ALLEN weltweit errichteten Windkraftanlagen verbaut wurde, gerade mal einem Drittel der Kupfer-Jahresproduktion von 2020 entspricht. Der viel größere Anteil wird für elektronische Bauteile und Leitungen aller Art verwendet, ohne dass der Spiegel mit einer halb zerstörten Erdkruste und ausgetrockneten Meeren auf dem Cover davor warnt. Da aber der Windkraftausbau deutlich beschleunigt werden soll, können wir die Branche gerne als Mitverursacher zählen, die hier natürlich auch eine Verantwortung trägt.

Aber auch in Bezug auf diverse andere Rohstoffe versucht die Spiegel-Geschichte das Zerrbild zu errichten, dass insbesondere die Energiewende reicher Länder ihr größter Verbraucher ist. Graphit, Kobalt und Nickel werden genannt, weil wichtige Bauteile moderner Batterien daraus bestehen. Tatsächlich werden aber nur vier Prozent der Weltnickelproduktion für Batterien verwendet, während aus über 70 Prozent davon rostfreier Stahl hergestellt wird.

Vollends absurd wird es, wenn auch die Folgen der Aluminiumförderung in Westafrika und eines Dammbruchs in der Nähe einer brasilianischen Eisenmine irgendwie der Energiewende in die Schuhe geschoben werden sollen:

„Im Januar 2019 brach in Brasilien ein Damm nahe einer Eisenerzmine, eine Schlammlawine ergoss sich ins Tal, mehr als 270 Menschen starben.
[…]
Das Beispiel des umstrittenen Bauxitabbaus [Ausgangsmaterial für Aluminium] in Westafrika zeigt, welche Verbindungen sich ergeben zwischen den glänzenden Ökoprodukten »made in Germany« und der staubgrauen Herkunft seiner Ingredienzien“

Keine Ahnung, in was für einer naiven Traumwelt die Autoren dieses Stückes leben, aber Aluminium und Eisen sind derartig vielseitig einsetzbar, dass sie aus unserem Alltag überhaupt nicht mehr wegzudenken sind. Bauteile aus Aluminium sind nämlich bei gleicher Bauweise nur halb so schwer wie andere Metalle, dementsprechend beliebt ist das Metall mit der Ordnungszahl 13 bei uns Menschen.

Wir stellen daraus Flugzeuge her, Nutzfahrzeuge, Druckluftbehälter, Schienenfahrzeuge, Fahrräder, Konservendosen, Tetra Paks, Dächer, Fensterrahmen, Fassaden, Brückenteile, Raketen, Bügeleisen, Feuerwerk und Antennen. Kennt ihr diese klassischen Kaffeekannen, die man sich auf den Herd stellen kann?

You guessed it, bestehen aus Aluminium. Aber, o weh! Der Artikel raunt uns zu: „Ein Audi E-Tron besteht zu 804 Kilogramm aus Aluminium.“ Ach, echt? Ein riesiger Elektro-SUV besteht auch aus Aluminium? Na, wer hätte das ahnen können? Auflösung: Alle, die nur 5 Minuten recherchieren. Wir stellen bei Verbrennerautos Motorblock, Zylinderkolben, Zylinderköpfe, Getriebegehäuse, Wärmeabschirmungen, Fahrwerke, Türen, Motorhauben, Stoßfänger und Kotflügel mindestens teilweise aus Aluminium her, und das nicht erst seit gestern: Bereits im Jahr 2015, als Tesla bei vielen noch als albernes Start-Up galt, landeten 50 Prozent des deutschen Aluminiums im Fahrzeugbau.

Der Skandal ist jetzt also offenbar schon, dass E-Autos die Abhängigkeit von Erdöl beenden, ohne gleichzeitig komplett ohne Metall auszukommen. Scheiß-E-Autos, dass die nicht aus Tannenzapfen hergestellt werden! In manchen Rechercheteams des Spiegels scheint der Druck, mit dem Artikel krasse Missstände aufzudecken, so groß, dass man zur Not vollkommen profane Umstände ohne jeden Neuigkeitswert dazu hochjazzt:

„Keine andere Industrie [als die Bergbaubranche] greift so erbarmungslos in die Umwelt ein.“

Ja, schon möglich, aber Bergbau gibt es halt schon seit hunderten von Jahren und eben verstärkt für Kohle und Erdöl mit besonders schädlichen Auswirkungen, von denen wir mit der Energiewende ja eben wegkommen wollen.

Ich weiß, mit der Argumentation bewege ich mich nahe am Whataboutismus-Vorwurf, daher kurz zur Klarstellung: Wenn Aluminium-Förderung ein Problem darstellt, dann können E-Tron-Fahrer sich NICHT damit rausreden, dass andere Autos auch aus Aluminium hergestellt werden. Für die Familien in Guinea, deren Trinkwasserquellen dem Bauxitabbau zum Opfer gefallen sind, ist das sicherlich kein Trost. Der Spiegel-Artikel liest sich aber so, als sei dieser Missstand exklusiv elektrischen Autos zuzuordnen und als könnten die Familien in Guinea wieder ein unbeschwertes Leben führen, wenn wir einfach weiter mit Erdöl-Autos rumfahren.

Die Dekarbonisierung ist außerdem aktuell neben Bestrebungen zum Weltfrieden das wichtigste Projekt der Menschheit. Es spiegelt nicht wirklich korrekt diese Priorität wider, wenn eine Spiegel-Titelstory auf dem Silberbedarf für Solarzellen herumreitet, während die Menschheit die fünffache Menge benutzt, um daraus Münzen, Schmuck oder anderen vergleichsweise unnützen Tinnef herzustellen.

Trick 4: Klimaschutz als heuchlerische Aktivität framen

Das ist keine sonderlich neuerlich neue Strategie, aber sie ist so effektiv, dass sie sogar bei der Klimabubble verfängt:

„Damit der reiche Norden ökologisch korrekt leben kann, wird der arme Süden ausgebeutet: Konzerne zerstören ganze Landstriche, um Rohstoffe für Windräder und Solarzellen zu fördern.“

Menschen haben eine wirklich seltsame Tendenz: Sie bewerten eine schädliche Handlung viel schlimmer, wenn sie von jemandem getätigt wird, der eigentlich eine gute Absicht verfolgt. Im schon etwas älteren Video von einem Science Slam mit Mai-Thi Nguyen-Kim wird dieses Konzept gut erläutert: Wenn Klaus und Jerome Plastikmüll in den Wald schmeißen, Klaus aber regelmäßig erklärt, dass Umweltschutz das Allerwichtigste ist, dann kann Klaus sich auf einen mittelgroßen Shitstorm einstellen, während Jerome halt so ein ehrlicher, edgy Typ ist, der es einfach nicht so mit der Umwelt hat. Der Witz ist nur: Es ist dem Wald scheißegal, ob Klaus ein Heuchler ist.

Ferner funktioniert das leider auch, wenn Klaus sich nicht mal konkret für „Umweltschutz“ stark gemacht hat. Damit die Leute reihenweise ausflippen, reicht es vollkommen, eine Position einzunehmen, die von vielen lediglich als Umweltschutz aufgefasst wird: Fast schon legendär sind Rückfragen nach dem Schema: „Was, Du bist Veganer, aber du fährst Auto / hast ein Handy / isst Sojaburger aus der Fabrik?“ Das mag intuitiv erst mal nicht zusammenpassen, aber beim Veganismus geht es definitionsgemäß erst mal darum, nur die Viecher in Ruhe zu lassen.

Gefördert wird die Empörung über vermeintliche Heuchelei oft noch dadurch, dass Medien gerne mal recht ungenau berichten, indem sie Handlungen und Produkte gerne möglichst pauschal auf einer eindimensionalen Skala für „Umweltschutzigkeit“ einordnen möchten. Ja, das klingt eigentlich zu albern, als dass irgendwer das ernsthaft machen würde, aber nichts anderes passiert meist, wenn irgendein Produkt als „schmutzig“, „sauber“ oder halt pauschal „umweltfreundlich“ gelobt/gebrandmarkt wird. Und ja, das passiert leider sehr oft, im vorliegenden Spiegel-Text beispielsweise allein fünfmal:

Da ist die Rede von einem sauberen Energiesystem, sauberen grünen Technologien, sauberen Wertschöpfungsketten, sauberen [Handels-]Quellen und sauberen Lösungen. Das unbedarfte Publikum stellt sich unter einer „sauberen“ Technologie dann leider allzu oft etwas vor, das es nicht gibt: Irgendeine Maschine, die ohne jede Schattenseite quasi aus dem Nichts Energie erzeugt. Tja, mit dem Setup könnt ihr so ziemlich jede Verbesserung mit einem unfairen Heuchelei-Vorwurf blockieren:

Pflanzliche Ernährung? Verbraucht Pestizide, ist nicht perfekt, viel Fleisch für alle! Fahrrad fahren? Die Dinger sind aus Aluminium und dann leiden Menschen in Afrika für saubere Luft im reichen Norden, da kann ich auch weiter Diesel fahren. Secondhand-Klamotten bei Ebay kaufen? Die Server emittieren doch irre viel Klimaemissionen, da gehe ich lieber zu Primark. Tja, komplexe Wertschöpfungsketten haben so viele Attribute, dass ihr kaum eine finden werdet, die in allen Kategorien, also Rohstoffverbrauch, Abgase, Klimaemissionen, Lärmemissionen, Entsorgung, Menschenrechte, Tierleid usw., eine weiße Weste hat.

Hierzu ist besonders diese „arme Länder müssen für unsere grünen Technologien im reichen Norden leiden“-Erzählung sehr beliebt, denn da läuft das Empörungszentrum schnell auf Hochtouren angesichts dieser un-fass-ba-ren Heuchelei. Der Spiegel setzt hier noch eins drauf und verdreht die tatsächlichen Umstände, indem er den Zweck einer Energiewende zu „ökologisch korrekter“ Lebensweise kleinredet.

Dass so was zeitgleich zur Weltklimakonferenz publiziert wird, kann man erwarten, aber eher bei Tichys Einblick oder anderen strammrechten Portalen als beim sich selbst als Leitmedium verstehenden Spiegel. Der Norden will also ökologisch korrekt leben, soso. Bei der Formulierung dürften die meisten Menschen ein paar erbsenzählerische Blödmänner vor Augen haben, die sich an irgendwelche ideologisch motivierten, quasireligiösen Vorschriften halten, um ihrer Peer-Group zu gefallen, aber ohne damit irgendein Problem zu lösen. Ein effektiveres Zerreden der Energiewende habe ich echt schon lange nicht mehr gelesen.

Bei der Energiewende geht es aber darum, dass wir unser Energiesystem umstellen müssen, nicht mehr und nicht weniger. Es hat so wie es heute ist katastrophale Auswirkungen auf unseren Planeten, ist unfair, ineffizient, ungesund und basiert auf endlichen Rohstoffen; wir müssen es also so oder so irgendwann beenden. Und das ist kein Projekt allein für den reichen Norden, sondern für alle Länder, die das Pariser Klimaabkommen ratifiziert haben. Sollen auch ein paar arme Länder dabei sein, die von den Auswirkungen der Klimakrise ganz besonders hart getroffen werden, wenn der Norden nicht endlich seine Zusagen einhält, habe ich mir sagen lassen.

Überhaupt krankt dieser allzu simple Vorwurf daran, dass sich die Welt nicht einfach einteilen lässt in Rohstoff-Länder und Länder mit Wind- und Solarkraft-Ausbau, im Gegenteil: In all den Ländern, hinter denen der Spiegel sich hier als Entschuldigung versteckt, nichts tun zu müssen, gibt es ebenfalls Bestrebungen, von Kohle, Öl und Gas wegzukommen:

In China, wo die meisten seltenen Erden abgebaut und verarbeitet werden, stehen die mit Abstand meisten Windkraft- und Photovoltaikkraftwerke und fahren mehr E-Autos / Einwohner als in Deutschland.

In Afrika werden voraussichtlich neun weitere Staaten dem „Gigawatt Club“ beitreten, also den Ländern, deren installierte Photovoltaik ein Gigawatt Leistung übersteigt. Das ist auch kein Wunder, haben viele Länder des riesigen Kontinents kaum stabile Stromnetze, aber dafür sehr viel Sonneneinstrahlung, so dass dezentrale Lösungen bestehend aus Solarstrom und Batteriespeichern dort sehr attraktiv sind. Bei den Ländern mit entsprechenden Plänen handelt es sich um Algeria, Zimbabwe, Zambia, die Demokratische Republik Kongo, Angola, Namibia, Äthiopien, Marokko und Botswana.

Chile verfügt über die Region Haru Oni, die über die beständigsten Starkwinde des Planeten verfügt. Das ist ein sensationeller Standortvorteil, weswegen dort bereits mehrere Projekte geplant sind, bei denen mit Windstrom synthetische Kraftstoffe hergestellt werden. In dem Land werden also nicht nur Kupfer und Lithium abgebaut, diese Metalle werden dort vielmehr auch genutzt, um die eigene Energiewende voranzutreiben.

Am Ende wird es also in Chile Windkraftanlagen mit chinesischem Neodym geben, in China fahre E-Autos mit kongolesischem Kobalt und im Kongo laufen Pufferbatterien mit chilenischem Lithium. Natürlich decken sich auch die reichen Länder im Norden mit diesen Rohstoffen ein, das ändert aber nichts daran, dass das Projekt Energiewende ein globales ist, von dem insbesondere arme Länder ohne Ölvorkommen profitieren werden.

Fazit:

Bei genauer Betrachtung bleibt vom Vorwurf des Raubbaus für die Rettung des Planeten am Ende kaum etwas übrig, und für die Missstände, die tatsächlich berichtenswert sind, werden bereits seit Jahren Lösungen diskutiert. Die Spiegel-Autoren versagen hier auf ganzer Länge, die Ergebnisse ihrer Recherche sinnvoll einzuordnen und zielen offenbar nur darauf ab, beim Publikum eine auf den Boden stampfende Empörung zu triggern.

Wie auch in den geistigen Vorbildern „Planet of the Humans“ von Michael Moore und der massiv desinformierende ARTE-Dokumentation „Die verborgene Seite der grünen Energien“ von Jean-Louis Pérez und Guillaume Pitron, steigern sich hier ein paar privilegierte, von der fossilen Weltwirtschaft profitierende Männer in einen dauerhaften Erregungszustand hinein, in dem jedes Gramm Solarzelle mit der Lupe auf Probleme untersucht wird, während so getan wird, als würde Erdöl auf lieblichen Almwiesen herangezüchtet.

Auch sie scheitern fulminant daran, auch nur eine einzige sinnvolle Alternative zu präsentieren und verirren sich am Ende genau wie Moore, Pérez und Pitron in der hochproblematischen Erzählung, dass das globale Bevölkerungswachstum das eigentliche Problem sei. Abgesehen davon, dass so ein Lösungsansatz aus dem extrem dicht bevölkerten Deutschland in Richtung ehemaliger Kolonien in Afrika einen ganz unappetitlichen Beigeschmack bekommt, ist sie auch in der Sache vollkommen naiv:

Klimaemissionen wirken kumulativ. Selbst wenn wir die Weltbevölkerung kurzfristig halbieren würden, so würde der Klimakollaps mit dem Erreichen unwiderruflicher Kipppunkte nur herausgezögert, solange weiterhin vier, zwei oder auch nur eine Milliarde Menschen weiter Erdöl, Kohle und Erdgas verbrennen.

Und bevor sich die Kritik jetzt pauschal am Medium selbst entlädt: Der Spiegel veröffentlicht in Bezug auf die Klimakrise auch extrem gute Beiträge. Auf der Themenseite zur Klimakrise finden sich exzellente Texte, von denen ich allerdings das starke Gefühl habe, dass Jens Glüsing, Simon Hage, Alexander Jung, Nils Klawitter und Stefan Schultz sie dringend mal lesen sollten. Auch die Kolumne von Christian Stöcker gehört mit zum besten, was es im deutschsprachgien Raum zum Thema zu lesen gibt.

Um so irritierender, dass dieses Stück Desinformation es zur Titelgeschichte gebracht hat.

_____________________________________________________________________________

Dieser Text wäre nicht zu Stande gekommen, wenn mich nicht viele großzügige Menschen unterstützen würden, die zum Dank dafür in meiner Hall of Fame aufgelistet sind.

Damit der hiesige Blogger sein Leben dem Schreiben revolutionärer Texte widmen kann ohne zu verhungern, kannst Du ihm hier ein paar Euro Unterstützung zukommen lassen. Er wäre dafür sehr dankbar und würde Dich dann ebenfalls namentlich erwähnen – sofern Du überhaupt willst.

Warum Klimaschutz uns Wohlstand und Stabilität bringen wird und die Bild das Gegenteil behauptet

Zugegeben, die Antwort auf die zweite Frage könnte ich sehr kurz halten und darauf verweisen, dass das Medium mit den vier Buchstaben in letzter Zeit noch spalterischer agiert als ohnehin schon, dass ihr Chefredakteur immer weiter ins Coronaleugner-Milieu abdriftet, das mit Klimaschutz ebenfalls auf Kriegsfuß steht, und dieses Blatt spätestens seit der Einmischung der jungen Generation mit allem auf junge Klimaaktivisti schießt, was das Arsenal hergibt.

Dass in der Bild Lügen über Klimaschutz, -maßnahmen und Politik zu finden sind, ist daher ebenso wenig überraschend wie der Zustand der Wohnzimmertapete, nachdem ihr ein paar 3-Jährigen Fingerfarbe und Spraydosen in die Hand gedrückt habt und den Raum für zwei Stunden mit den Worten „Macht, was ihr wollt!“ verlasst.

Ich widme diesem Boulvardblatt nun aber dennoch meine Aufmerksamkeit, weil die hier zu Papier gebrachte Erzählung weit über den Dunstkreis der Bild hinaus verbreitet ist und Ihr sie in den kommenden Jahren wohl leider sehr oft zu hören bekommen werdet. Sie geht so: Beim Klimaschutz geht es nur darum, dass wir alle ganz dolle verzichten und arm werden müssen, und die Schnösel sitzen in der ERSTEN KLASSE UND TRINKEN DA LATTE MACCHIATO UND LACHEN ÜBER UNS!!!11!eins.

Es gibt eine Menge konservativer Medien, die mit diesem Schreckgespenst effektiven Klimaschutz zu verhindern versuchen, aber auch in manchen linken Kreisen findet man sie in eher technologiefeindlichen Bubbles, so hatte ich hier z.B. eine Dispute mit selbsterklärten Sahra-Wagenknecht-Fans, die ähnlich argumentiert haben bzw. der Film „Planet of the Humans“ vom eindeutig links eingestellten Michael Moore verrennt sich komplett in diesem Fehlschluss.

Der Witz ist: Verzicht kann nur ein kleines Puzzlestück der großen Lösung der Klimakrise sein, während es hier von der Bild und Moore als zentraler, scheinbar allein funktionierender Lösungsansatz ins Spiel gebracht wird, und das ist er absolut nicht. Klar, wir alle können den eigenen Konsum runterschrauben und überlegen, ob es nicht auch mit dem Zug in den Urlaub gehen kann oder ob wir jeden Monat neue Klamotten kaufen müssen, aber dieser Ansatz hat einen stark sinkenden Grenznutzen.

Selbst ich abgefreakter Verzichtsfuzzi (Veganer ohne Auto und Flüge und ausgeprägter Liebe zu Secondhand-Klamotten) komme auf satte 4 Tonnen CO2 im Jahr, wenn der Winter kalt wird eher 4,5 Tonnen. Das ist immer noch viel zu viel und außerdem nicht mal auf alle anderen Deutschen übertragbar, denn während ich zu Fuß zum Coworking gehen kann haben Millionen andere Menschen lange Anfahrtswege abseits irgendwelcher ÖPNV-Strukturen oder Radwege und eine Ölheizung im Keller.

Es geht hier ja nicht um Luxus-Artikel, sondern erst mal um Grundbedürfnisse. Wir brauchen alle Strom, Medikamente, eine warme Bude im Winter und nutzen dafür Produkte aus Stahl, Zement und langen Lieferketten. Im Deutschland des Jahres 2021 ist es nicht möglich, dieses Dilemma durch individuelle Kaufentscheidungen zu lösen.

Kurz gesagt: Arm werden bringt dem Klima vielleicht kurzfristig ein kleines bisschen was, ist aber als langfristige Lösung ähnlich gut geeignet wie die Behandlung einer entzündeten Zahnwurzel mit Ibuprofen. Und was in der Metapher die entzündete Zahnwurzel ist, sind in der Realität primär unsere auf fossilen Energieträgern beruhende Wirtschaft und unsere nicht nachhaltige Landwirtschaft, die müssen raus.

Die Bild framet das nun komplett anders und tut so, als sei es DIE Kernstrategie des Klimaschutzes, einfach alle arm zu machen – auch wenn niemand aus der Klimaschutz-Bewegung das jemals so vorgeschlagen hat. Verfasst hat diesen himmelschreienden Unsinn unter Anderem Filipp Piatov, der Bild-Redakteur, der letztes Jahr versucht hat, in einem maximal durchsichtigen Versuch, Prof. Drosten zu diskreditieren und damit phänomenal gescheitert ist.

Ganz grundsätzlich scheint der Mann mit Zahlen und komplexen Zusammenhängen große Probleme zu haben, so dass es nicht verwundert, wie dilettantisch er hier argumentiert:

Sack und Asche statt Hightech und Handy? Sollen wir arm werden, um das Klima zu retten? […] Fakt ist: Egal, ob Friseurbesuch (plus 3,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat) oder essen gehen (3,7 Prozent mehr): Deutschland trifft derzeit schon ein Teuer-Schock! […] So gut wie nichts, was in den Supermarktregalen zu finden ist, bleibt preislich stabil“

No shit, Sherlock. In einem freien Markt gibt es Inflation und die Preise ändern sich, wer hätte das gedacht? Komisch, dass ausgerechnet die Leute, die immer vor dem Sozialismus warnen, sobald sich irgendwo linke Regierungen bilden, mit weit aufgerissenen Mündern vor Preissteigerungen stehen, wenn der Markt dazu führt.

„Eine Verzichtskultur hilft dem Klimaschutz wenig, da große Teile der Bevölkerung ihren Konsum nicht wesentlich einschränken können oder wollen“

sagt Captain Obvious Ulrich Schmidt (53), Ökonom am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Bebildert ist dieses riesige Strohmannargument mit einem in Lumpen gehüllten deutschen Michel, der inmitten von Dingen sitzt, die bei man bei der Bild wohl mit Klimaschutz assoziiert, unter Anderem Flugtaxis und Bio-Tomaten (niedlich).

Warum der arme Michel nicht in das neben ihm stehende E-Auto steigt (ist in meinem Vorschaubild von Robert Downey Jr. Augenrollen überlagert), das durch das Windrad ja vermutlich mit echt günstigem Strom aufgeladen ist, wird nicht ersichtlich. Vielleicht meditiert der Mann auch einfach nur und fährt danach zum Yoga-Retreat nach Blankenese? Wer weiß…

Wie auch immer, diese ganze Erzählung ist so falsch wie alt. Sie ignoriert, dass internationale Klimaschutzbemühungen zu Millionen neuen Jobs, günstiger Energie und eingesparten Gesundheitskosten in Milliardenhöhe führen werden und dass allein Deutschland aktuell jährlich ca. 150 Milliarden Euro Klimafolgekosten für die nachfolgenden Generationen verursacht – optimistisch gerechnet. Wer die bezahlt? Ist der Bild halt egal.

Aus Zufall habe ich schon letzte Woche eine Entgegnung zu dieser Erählung geschrieben. Mein Internet Buddy Ralph Ruthe (der Cartoonist) hatte mir angeboten, für einen Tag seinen Twitter Account zu übernehmen. Dieser lange Thread stammt also tatsächlich von mir, auch wenn er jetzt auf seinem Account steht. Ich klaue ihn also nicht von ihm, sondern von mir, weil es hier einfach zu gut reinpasst (leicht abgeändert und um Quellen ergänzt):

Der Witz an einer klimaneutralen Gesellschaft ist übrigens, dass darin niemand ein schlechtes Gewissen wegen seines CO2-Ausstoßes mehr haben muss. Daran kranken alle Erzählungen, der Klimabubble ginge es eigentlich nur um moralische Überlegenheit.

Im Wahlkampf und in auch in fast jeder Diskussion dazu kommt der Punkt, an dem behauptet wird, es ginge bei Klimaschutz um eine fortschritts- und wohlstandsfeindliche Verzichtsgesellschaft, in der „Klimasünder“ an den Pranger gestellt werden sollen. Das ist kolossaler Unsinn.

Ein Tag im Jahr 2040 könnte so aussehen: Ihr steht an einem Dezembermorgen in der Küche und genießt ungefähr die gleichen Annehmlichkeiten wie heute: Der Fußboden ist schön warm, der Kaffee brühend heiß und die Wohnung hell beleuchtet, aber euer CO2-Ausstoß liegt bei null.

Eure Wohnung wird von einem Fernwärmenetz warm gehalten, dessen Speicher im Sommer aufgeheizt wurden (so was gibt es in Dänemark längst). Die Kaffeemaschine und die restlichen Stromverbraucher laufen mit Windstrom oder eurem Batteriepuffer im Keller.

Deutschland hat seine EE-Erzeugung nämlich auf 1.500 Terawattstunden im Jahr hochgefahren, dadurch gibt es kaum noch Tage, an denen zu wenig Strom in den kurzfristigen Speichern ist. Für mehrere Tage Windflaute am Stück stellen wir mit überschüssigem Strom Methan her oder importieren es aus dem Rest Europas.

Das können wir in unserem gigantischen Gasnetz speichern (in dem im Jahr 2021 bedrohliche Leere herrschte) und bei mehreren Tagen Flaute wieder in Gaskraftwerken in Strom umwandeln. Auf dieselbe Weise können wir synthetischen Schiffsdiesel herstellen, mit dem im Jahr 2040 fast alle großen Frachter unterwegs sind und mit dem wir uns auch Kaffee liefern lassen können.

Da der Anbau von Pflanzen wie Kaffee und Kakao aber auch viel Fläche benötigt und in Konkurrenz zu Wäldern steht wurde er im Rahmen des Pariser Klimaabkommens recht teuer. Es sind daher Firmen entstanden, die eher problematische Nahrungsmittel synthetisch herstellen, so wie das 2021 bereits die finnische Firma Solar Foods mit Protein konnte.

Großer Nachteil war damals ein Mangel an sauberem Strom, aber 2040 gibt es unermesslich viel davon. Zur Arbeit kommt ihr ganz ähnlich wie heute, allerdings sind weniger Menschen unterwegs, weil sich Remote Work kulturell stärker etabliert hat und die meisten von uns nur 2 von 5 Tagen im Büro sind, wenn der Job keine Anwesenheit erfordert. In vielen Städten treffen sich daher viele Menschen unterschiedlicher Firmen in Coworking–Spaces, unabhängig davon, wo ihr Arbeitgeber sitzt.

Den Deutschen gehören immer noch ein paar Millionen Autos, aber sie funktionieren nicht mehr mit Verbrennungsmotoren und werden kaum noch in Städten gefahren. Eine Autofahrt dauert dort viel zu lange, weil Lieferdienste, Busse, städtische Fahrzeuge usw. als wichtige Verkehrsteilnehmer Vorrang vor PKW bekommen haben.

Die Straßenflächen sind gerecht aufgeteilt, wodurch es viel mehr Menschen gibt, die per Fahrrad, zu Fuß oder mit Öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Wer also auf ein Auto angewiesen ist, kann damit etwas oder jemanden transportieren, aber es bringt keinen Zeitvorteil mehr.

In Städten stehen dafür überall Leih-Autos auf festen Parkplätzen bereit, damit es keinen Parksuchverkehr gibt. Wer ein eigenes Auto in der Stadt parken will, muss nach japanischem Vorbild in ein Parkhaus oder einen privaten Stellplatz nutzen.

Mit den ehemaligen Parkplätzen sind riesige Flächen frei geworden, auf denen sich die Menschen nun wieder begegnen, wo Kinder zusammen spielen und Nachbarn abends zusammensitzen. Wer mit dem Auto anreist, kann es vor der Stadt abstellen und kostenlos mit dem ÖPNV weiter.

In dünner besiedelten Regionen ist der Autoverkehr immer noch verbreiteter, aber durch ein Netz von gut ausgebauten Radwegen und Ladestationen vollelektrisch und nicht mehr alternativlos. Für Fernreisen gibt es ein eurasisches Hochgeschwindigkeits-Zugnetz mit hochwertigen Schlafwagen. Wer abends in Madrid einsteigt, kann am nächsten Mittag ausgeruht Kopenhagen bewundern.

Für weitere Reisen gibt es nach wie vor Flugzeuge, aber sie fliegen auf Kurzstrecke elektrisch und auf Langstrecke mit aus Strom gewonnenem E-Kerosin und sind entsprechend teuer, weswegen ein City-Trip von Frankfurt nach New York wieder eher etwas besonderes geworden ist.

Okay, das sind jetzt nur 3 von 100 Aspekten, aber ich hoffe, die Idee wird klar: Für ein erfülltes Leben brauchen wir keine fossilen Brennstoffe. Auch in einer 100 Prozent klimaneutralen Gesellschaft würden wir Leben führen, um die uns der Hochadel des 19. Jahrhunderts beneiden würde.

Wir wären eine wahrhaftig reiche Gesellschaft, die von so einem Umbau auch extrem profitieren könnte. Unsere Städte und Dörfer könnten zu wunderbar lebenswerten, ruhigen, sauberen Orten werden, in denen wieder der Mensch im Mittelpunkt steht.

Wenn wir unter der Dusche stehen, ist es vollkommen egal, ob eine Wärmepumpe das Wasser erwärmt hat oder ein Gasboiler. Strom ist Strom, ein Elektron schmeckt nicht nach Kirsche, wenn es aus dem Kohlekraftwerk kommt. Das, was heute als Verzicht geframed wird, muss gar nicht wirklich schlechter sein. Ein Fahrt mit dem Rad durch Utrecht ist kein Verzicht, sondern einfach schön.

–> Wir können eine Menge verlieren, aber auch wahnsinnig viel gewinnen. Und in dieser fiktiven Welt im Jahr 2040 ist es eben nicht wichtig, wer wie gut das Klima schützt, da es gar nicht mehr möglich ist, ihm nennenswert zu schaden.

Wozu dann noch ein schlechtes Gewissen? Wozu dann noch Verzicht?

_____________________________________________________________________________

Dieser Text wäre nicht zu Stande gekommen, wenn mich nicht viele großzügige Menschen unterstützen würden, die zum Dank dafür in meiner Hall of Fame aufgelistet sind.

Damit der hiesige Blogger sein Leben dem Schreiben revolutionärer Texte widmen kann ohne zu verhungern, kannst Du ihm hier ein paar Euro Unterstützung zukommen lassen. Er wäre dafür sehr dankbar und würde Dich dann ebenfalls namentlich erwähnen – sofern Du überhaupt willst.

How to Energiewende in 10 Jahren, Teil 6: Halten die Netze das aus, was ist mit den Rohstoffen und wie viel kostet das`?

Herzlich willkommen zu Teil 6 und damit dem Finale meiner Artikelreihe zur Energiewende. Solltet ihr die vorherigen Teile noch nicht gelesen haben, ist es vermutlich besser, erst mal dort anzufangen. Ihr findet sie hier. Solltet ihr sie schon gelesen, aber längst vergessen haben, was genau drinstand, kommt jetzt ein kurzer „Was bisher geschah“- Absatz:

Wir können in Deutschland mit einem Bruchteil der vorhandenen Fläche sehr viel Strom aus Wind und Sonne erzeugen. So viel, dass wir mit der reinen Energiemenge locker die ineffizienten fossilen Energieträger ersetzen können. Wir werden nicht umhin kommen, einen Teil dieser Energie für den späteren Einsatz zu speichern, was technisch aber sowohl kurz- als auch langfristig möglich ist.

Da Deutschland ein dicht besiedeltes Industrieland mit hohem Strom- und Wärmebedarf ist, ist eine solche Umstellung in den meisten anderen Ländern noch einfacher. Wir könnten dann in einer Welt ohne sich verschärfende Klimakrise leben, zudem hätten wir sauberere Luft, ruhigere Städte und müssten keine historischen Kirchen abreißen, weil unter ihnen Kohleadern verlaufen. Klingt ja erst mal ganz toll, aber was ist mit den Nachteilen? Halten unsere Netze das aus? Wie viele Rohstoffe verbraucht das? Und wie wollen wir das alles finanzieren?

Fangen wir mit dem Thema an, das reihenweise Goldmedaillen abräumen würde, wenn Menschen langweilen olympisch wäre: Dem Netzausbau. Solltet ihr mal bei einem ersten Date merken, dass das absolut nichts werden kann, dann erzählt Eurem Gegenüber 15 Minuten lang möglichst enthusiastisch davon, wie im örtlichen E-Werk jetzt der neue Hochspannungstrafo installiert wurde. Spart nicht mit Details, zeigt Fotos von den Bauteilen und sagt Sachen wie „Sind die Kupferspulen nicht schön?“ oder tragt euer selbstgeschriebenes Gedicht „Ode an den Strommast“ vor. Ihr seid dann bald wieder allein und könnt den Rest des Abends Herr der Ringe lesen (dankt mir später).

Dabei ist die Grundlage eigentlich recht spannend, denn seit Einführung elektrischen Stroms war das Prinzip nun mal Folgendes: Es gibt ein paar große Kraftwerke im Land und wer Strom braucht, der muss ihn bei denen kaufen. Klingt zugegeben ziemlich lässig – zumindest wenn euch zufällig eins dieser Kraftwerke gehört, das gibt Spielraum für die ein oder andere Monetenschlacht mit der Familie. Gehört euch aber kein Kraftwerk, dann nehmt ihr an der Monetenschlacht nur indirekt teil: Sie wird mit eurer hart verdienten Kohle veranstaltet.

Unsere bereits begonnene Energiewende kehrt diese Verhältnisse nun radikal um: Während früher nur ein paar hundert Kraftwerke unseren gesamten Strom erzeugten, sind an dieser Aufgabe jetzt zusätzlich ein paar tausend Biogas-Kleinkraftwerke, ca. 30.000 Windenergieanlagen und 1,5 Millionen Solaranlagen beteiligt. Gingen unsere Netze also früher einer ziemlich monotonen Arbeit nach, indem sie den Strom von ein paar hundert Orten in die gesamte Republik schaufelten, kommt dieser nun von bis zu Millionen verschiedener Orte und muss je nach Wetterlage ganz unterschiedlich verteilt werden.

Außerdem gibt es in Zukunft noch eine deutlich wachsende Anzahl von Verbrauchern, denn wir wollen ja auch mit Strom Auto fahren, mit Strom heizen und einen Teil davon für später speichern. Die berechtigte Frage lautet also: Halten die Netze das aus? Kurze Antwort: Jein. Lange Antwort: Je nach Konzentration von Stromverbrauchern und Kraftwerken an einzelnen Orten werden besonders die Verteilnetze verschieden große Updates brauchen und solange keine extrem großzügige, gute Fee auftaucht, wird das auch Geld kosten.

Es gibt aber einen Weg, diese Kosten nicht komplett ausufern zu lassen: Strom im Idealfall dort erzeugen, wo er gebraucht wird. Das mag profan klingen, ist aber aufgrund der Historie unseres Stromnetzes alles andere als selbstverständlich. In Deutschland ist es so geregelt, dass der Großhandelspreis für Strom überall derselbe ist – dementsprechend unerheblich war für die Standortwahl von Unternehmen bislang, wo er eigentlich herkommt. Dieses Konzept wird manchmal auch etwas spöttisch „Kupferplatte“ genannt, weil in ihrer nicht wirklich der Realität entsprechenden Logik ganz Deutschland wie ein einziger, riesiger Stromleiter funktioniert. Nach ihm ist es dann relativ egal ist, wo auf dieser Platte ich nun ein Gaskraftwerk und wo eine Google-Serverfarm hinpflanze, der Strom wird schon den Weg vom einen zum anderen finden.

das könnte im Jahr 2030 eure Monetenschlacht sein

Besonders heftige Kritik an der Energiewende wird ja gerne garniert mit dem Ausspruch „Höhö, der Strom kommt ja aus der Steckdose, höhö“, was insofern unfreiwillig komisch ist, dass genau dieser Gedanke eigentlich viel eher unserem aktuellen System zu Grunde liegt. Damit Windstrom aus Niedersachsen aber die Maschinen eines bayerischen Aluminiumherstellers betreibt (eine sehr stromhungrige Branche), sind entsprechende Leitungen nötig, in der Presse auch gerne „Stromtrassen“ genannt. Eine davon soll nach Fertigstellung aus zwei 12 Zentimeter dicken, 700 Kilometer langen Kabeln bestehen, die von Brunsbüttel bis Heilbronn führen und auf den Namen „Suedlink“ hören.

Ich weiß, so ein Hochspannungskabel klingt nach einem wirklich kreativen Geschenk zum Hochzeitstag, aber solltet ihr das in die engere Wahl nehmen, dann bittet schon mal um einen Gehaltsvorschuss: Die Investitionskosten werden auf 10 Milliarden Euro geschätzt. Diese Kabel können zusammen 4 Gigawatt übertragen, vornehmlich Windstrom aus dem Norden in den Süden.

Das ist schon ganz ordentlich, bei voller Auslastung könnte man damit 3 DeLoreans aus Zurück in die Zukunft gleichzeitig ins Jahr 1985 zurückschicken (lustig, dass Marty McFly nicht weiß, was ein Gigawatt ist). Oder vielleicht etwas plastischer: Die besten Supercharger von Tesla können Spitzenladeraten von 250 Kilowatt liefern – Suedlink könnte also 16.000 solcher extrem schnellen Ladevorgänge gleichzeitig ermöglichen (alternativ wären 350.000 gleichzeitige Ladevorgänge mit alltäglichen Ladezeiten drin).

Klingt erst mal fluffig, ist aber eben nicht ganz billig: Der Transport einer Kilowattstunde aus dem Norden nach Bayern kostet damit mehrere Cent (der genaue Wert hängt stark an der schlecht vorhersehbaren Lebensdauer der Trasse (Seite 48) – eine  Kilowattstunde Windstrom kostet in Deutschland aber ohnehin nur 4 bis 8 Cent in der Erzeugung. Eine Windkraftanlage in Bayern kann das örtliche Aluminiumwerk also in vielen Fällen mit günstigerem Strom beliefern als eine an der Nordsee, selbst wenn an ihrem Standort eigentlich weniger Wind weht.

Es stellt sich ein bisschen so wie bei der Gießkannenmetapher bei den Stromspeichern dar (vergleiche Teil 5): Direkt den Strom verbrauchen, der vor Ort erzeugt wurde, entspricht einer Gießkanne voller Wasser. Sollte die nicht reichen, habe ich noch Suedlink, meinen löchrigen Gartenschlauch als Backup, den ich aber aus Kostengründen nur einsetzen sollte, wenn es nicht anders geht. Es würde sich also lohnen, wenn große Stromverbraucher sich zumindest ein paar dieser Gießkannen zulegen würden, was mich zu einem Mann führt, der diese Umstände konsequenter beherzigt hat als die meisten:

Es war einmal ein Bäckermeister aus Haan im Königreich Nordrhein-Westfalen. Er wohnte mit seiner Frau und seinen Kindern im Fürstentum Essen, backte die leckersten Brötchen im ganzen Königreich und fing im Jahr 2010 an, sich über den Strom- und Gasverbrauch seines Gehöfts Gedanken zu machen. In der Folge baute er eine große Photovoltaikanlage auf das Dach der Bäckerei, erzeugte aus alten Broten Strom mittels eines Biomassekessels und wollte die frischen Brote am liebsten emissionsfrei mit seinem Sonnenstrom ausliefern.

Tesla war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch ein vielerorts belächeltes Startup, in dessen einzige Modelle nicht sonderlich viele Brötchen passten und der Umbau eines Diesel-Transporters in einen E-Lieferwagen kostete noch schlappe 80.000 Euro. Bäckermeister Schüren ließ sich nicht entmutigen und schrieb kurzerhand selbst ein Lastenheft für vollelektrische Lieferwagen, versiegelte dieses und schickte es an Automobilhersteller. Leider kapierten die alle nicht, dass schon bald nicht nur der fleißige Bäckermeister, sondern auch der Schmied, die Köhlerin und der Kupferstecher nach so einem Gefährt Ausschau halten werden und dieses ganze Geschäft an eine Tochterfirma der Deutschen Post verlieren werden (Quelle ebenfalls der Wiwo-Artikel).

Diese Firma nannte sich Streetscooter und mit ihrer Hilfe konnte Bäckermeister Schüren seine Brötchen nun mit Sonnenstrom ausliefern. Er war von diesem Umstand berechtigterweise so begeistert, dass er sich fortan der Aufgabe verschrieb, all den anderen Menschen im Land den Transport via Sonnenstrom näherzubringen, so dass er heute Europas größte E-Auto-Raststätte betreibt. Diese befindet sich am Autobahnkreuz Hilden, wo ich (wirklich) zufällig im Juli 2020 auf dem Weg an die Ostsee ein geliehenes Model S aufgeladen habe. Versprühte der Ort damals noch nicht so viel Charme:

Hat sich das Bild heute ziemlich gewandelt:

Bild von Tomás Freres, lizenziert nach CC BY-SA 4.0

Hier stehen über 100 Ladesäulen zur Verfügung, darunter auch 12 Tesla-Supercharger der dritten Generation und Fastned-Schnellladestationen, mögliche Spitzenleistung: 250 und 300 Kilowatt. Die Frage, die sich den meisten Menschen (auch mir) intuitiv stellte: Bricht nicht das örtliche Stromnetz zusammen, wenn hier an allen Plätzen gleichzeitig geladen wird?

Beantworten musste diese Frage Daniel Heuberger, Chef der Netzsparte der Stadtwerke Hilden. Damit ein lokales Verteilnetz so große Strommengen bewältigen kann, muss es im Zweifelsfall mit Höchstspannung arbeiten – was in diesem Fall den Bau eines kompletten Umspannwerks erfordert hätte und entsprechend teuer geworden wäre.

Die auf dem Bild zu sehenden, großen, schrägen Dachflächen waren aber keine rein ästhetische Entscheidung: Die dort installierten Photovoltaik-Module liefern in der Spitze 700 Kilowatt und füllen bei Überschuss einen 2-Megawattstunden-Batteriepuffer (zum Vergleich: Der Batteriespeicher in Schleswig-Holstein aus Teil 2 speichert 50 Megawattstunden). Für Tageszeiten mit besonders viel Nachfrage kann Roland Schürens E-Tankstelle also mehrere Ladevorgänge aus eigener Kraft versorgen und drosselt die Ladegeschwindigkeit, bevor die aus dem öffentlichen Stromnetz entnommene Strommenge zu hoch wird. Die Lastspitzen des Netzes werden so „geglättet“, mit dem Ergebnis, dass in Hilden erst mal kein Umspannwerk gebaut werden musste. Und so lebten Roland Schüren und seine Familie glücklich bis an ihr Lebensende und luden eine Menge E-Autos mit sehr klimafreundlichem Strom auf.

Das ist einer der Vorteile einer sogenannten dezentralen Energiewende, praktisch dem Gegenentwurf zur Kupferplatte: Anstatt nur die Nordseeküste mit Windkraft zuzustellen hat es mehrere Vorteile, Wind- und Solarkraft gleichmäßiger über das ganze Land zu verteilen, die Energiewende also eher dezentral zu gestalten. Zu diesem Ansatz könnte ich eine eigene Artikelreihe schreiben, daher verlinke ich hier für Interessierte weiterführende Artikel zum Einlesen: Grundlagen, Einschätzungen der führenden Expert:innen auf dem Gebiet, umfassende Forschungsarbeit für lange Abende vor dem Kamin

Strom könnte dann eben nicht mehr überall und zu jeder Zeit dasselbe kosten und damit sowohl Menschen als auch Unternehmen motivieren, ihn dann zu verbrauchen, wenn ohnehin viel vorhanden (und er damit billig) ist. Im Haushalt könnte zum Beispiel die befüllte Waschmaschine dann loslegen, wenn ein mit dem Stromanbieter kommunizierender Sensor ihr grünes Licht gibt. Aber auch manche Unternehmen könnten besonders energieintensive Prozesse auf Zeiten legen, in denen bei ihnen ohnehin viel Strom erzeugt wird.

Das bedeutet nun nicht, dass wir unsere Netze einfach so lassen können. Im Rahmen einer vollständigen Energiewende wird es sicher auch Engpässe geben, besonders in den 880 lokalen Verteilnetzen, die sich nicht durch so ein Lastenmanagement kompensieren lassen. Ja, die Netzbetreiber werden hier Geld in die Hand nehmen müssen. Der Energieversorger E.On hat für die Wirtschaftswoche berechnet, wie viel sie bei einem kompletten Umstieg auf E-Autos in die Infrastruktur investieren müssten: Bis 2045 ca. 400 Euro pro E-Auto, bezogen auf die E.On Kundschaft bedeutet das fünf Milliarden Euro in 25 Jahren.

Klingt erstmal viel, aber E.On investiert ohnehin eine Milliarde Euro in seine Netze – pro Jahr. Zudem ließe sich auch das per Lastenmanagement verringern, indem das nächtliche Aufladen der Autos staffelt. Wen interessiert es schon, ob die eigene Karre nun zwischen 19 und 23 Uhr oder zwischen 2 und 6 Uhr aufgeladen wird? Das spart nicht nur eine Menge Geld, sondern auch kostbare Ressourcen, solange wir Umspannwerke und Strommasten nicht aus Tannenzapfen und Moos herstellen können, sondern auf diverse Metalle zurückgreifen müssen.

Apropos Ressourcen: Wenn wir wirklich alles umstellen wollen, müssen wir dann nicht den kompletten Planeten umgraben, um an all das Material dafür zu kommen? Dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, nachdem man verschiedene Dokumentationen öffentlich-rechtlicher Sender zu diesem Thema gesehen hat. Hätte eine Außerirdische Zugriff auf unsere Facebook-Kommentarspalten, sie könnte schnell den Eindruck gewinnen, dass sämtliche kritischen Elemente der irdischen Rohstoffwirtschaft ausschließlich für E-Autos, Windkraftanlagen und Solarzellen verbraucht werden.

Hätte ich für jedes Mal, dass mir jemand „DU WEIẞt ABER SCHON, DASS DA TOTAL UMWELTSCHÄDLICHES GIFTIGES, VON KINDERN GEFÖRDERTES LITHIUM IN DEN E-AUTOS STECKT???“ geantwortet hat, einen Euro bekommen, ich könnte meine Supporter-Seite offline nehmen. Daran ist mitunter merkwürdig, dass es die Durchschnittsdeutschen vor der Energiewende recht wenig interessierte, wo all ihr Lithium, ihr Kobalt und ihr Nickel herkam. Lange bevor E-Autos nennenswerte Verkaufszahlen erreichten, fand Kobalt, ein Nebenprodukt der Kupfer- und Nickelproduktion, seinen Weg zielsicher in deutsche Konsumgüter: Damit wurden Magnete hergestellt, irgendwelcher Plunder blau gefärbt, Metalle gehärtet und Diesel-Kraftstoffe entschwefelt. Und Deutsche so:

Ja, wenn durch Rohstoffabbau Ökosysteme nachhaltig zerstört oder Menschen ausgebeutet werden, ist das großer Mist. Nun benötigen halt alle Produkte irgendwelche Rohstoffe, die Frage sollte also immer sein: Wie viel ist das im Vergleich zur Alternative? Die meisten Krachbumm-Artikel der deutschen Medienlandschaft würden sich selbst erübrigen, wenn die Autorin bzw. der Autor gezwungen wären, bei Innovationen immer auch den Vergleich zum Status-Quo zu ziehen.

Solange wir weder Kreislaufwirtschaft noch effektives Lieferkettengesetz haben, müssen wir uns leider damit abfinden, dass alle Produkte, auch die für die Energiewende benötigten, Rohstoffe verbrauchen, und dass der Abbau mancher dieser Rohstoffe problembehaftet ist. Nein, das ist alles andere als ideal, aber eben ein Argument für Lieferkettengesetz und Kreislaufwirtschaft, nicht gegen Windkraftanlagen oder E-Autos, denn bei den Rohstoffen für die Fossilwirtschaft ist das Problem noch größer.

Erdöl-Autos gibt es seit über 100 Jahren, trotzdem wirkt das Recyclingkonzept nicht so wirklich zu Ende gedacht: Die Blei-Batterien werden von nigerianischen Jugendlichen ohne Schutzkleidung auseinandergesägt, die Folgen sind dramatisch. Für Displays, Zündkerzen und Katalysatoren werden seltene Erden und andere kritische Metalle benötigt und der größte Rohstoffeinsatz, das Erdöl, verursacht gigantische Umweltzerstörungen und wird beim Verbrennen einfach in unserer Atmosphäre verklappt – mit den bekannten Auswirkungen.

Bei den neuen Energien passiert indes eine Menge: Lithium-Ionen-Batterien können heute schon zu einem hohen Grad recycelt werden, und das, obwohl es dafür noch gar keinen nennenswerten Markt gibt, da die meisten E-Autos einfach noch nicht alt genug sind und die Batterien sehr hohe Lebensdauern haben. Die kommende Generation wird zudem voraussichtlich ganz ohne Kobalt auskommen, eine höhere Energiedichte haben und damit weniger Material / Kilowattstunde benötigen (vergleiche Teil 4). Es gibt übrigens auch in Deutschland Lithium: Zwischen Frankfurt und Basel liegt die vermutlich größte Lithium-Quelle Europas, der Abbau kann in bereits bestehenden Geothermie-Anlagen integriert werden.

Auch bei Windkraftanlagen hält sich das Gerücht, diese seien am Ende kompletter Sondermüll und ein riesiges Umweltproblem, weil irgendwelche dubiosen Typen in Wyoming mal alte Rotorblätter im Boden vergraben haben und dieses Bild seitdem um die Welt geht. Diese „Entsorgungs“-Methode ist in Deutschland seit 2005 verboten, während Siemens-Gamesa gerade die erste Windkraftanlage installiert, deren Rotoren recyclebar sein werden, indem eine neue Art von Kunstharz verwendet wird.

Ja, wenn wir unsere Energieversorgung auf Erneuerbare umstellen, dann müssen wir mit den Rohstoffen sorgsam umgehen, keine Frage. Was ich bei der Frage immer etwas vermisse, ist der Vergleich mit dem Status-Quo: Wie viele Rohstoffe verbraucht denn fossile Stromerzeugung aktuell? Vergleiche ich eine moderne Windkraftanlage mit Kohleverstromung sieht das folgendermaßen aus:

Das ist eine Enercon E-126 -Anlage:

Bild von Jfz, lizenziert nach CC BY 3.0

Sie erzeugt im Jahr um die 20 Gigawattstunden Strom und wiegt 7.000 Tonnen, davon entfallen ca. 95% auf Beton und Stahl, der Rest sind Verbundmaterialien und die Komponenten für Generator und Stromanschluss etc.

Ja, so eine Anlage sollte euch nicht auf den Fuß fallen, wenn ihr noch eine Karriere im Profi-Volleyball plant, aber sind 7.000 Tonnen nun viel oder wenig? Vergleichen wir dafür einfach mal, wie viel Kohle ein Kohlekraftwerk verbrennen muss, um dieselbe Strommenge zu erzeugen. Ein Kilo Braunkohle hat einen Brennwert von 7,7 Kilowattstunden, beim Verbrennen in einem Braunkohlekraftwerk geht aber ein Teil der Energie verloren. Mit 40% Wirkungsgrad bekommen wir also noch 3,1 Kilowattstunden pro Kilo Braunkohle raus. Um den Jahresertrag unseres Beispiel-Windrads von 20 Gigawattstunden zu erzielen, muss das Kohlekraftwerk ungefähr 6.450 Tonnen Kohle verbrennen, also schon fast so viel wie das ganze Windrad wiegt.

Der Witz ist jetzt, dass sich so eine Windkraftanlage ja nicht nach einem Jahr spontan in Luft auflöst, sondern in der Regel mindestens 20 Jahre lang Wind in Strom verwandelt. Um sie über diese gesamte Lebensdauer zu ersetzen, muss ein durchschnittliches deutsches Braunkohlekraftwerk also 130.000 Tonnen Kohle verbrennen, das entspricht in etwa dem 19-fachen der Windrad-Masse. Zudem werden die meisten Komponenten der Anlagen bereits heute recycelt: Stahl und sonstige Metalle werden zerteilt und an den Schrotthandel verkauft, der Beton wird zu Betonsplitt und Brechsand zerkleinert und kann dann im Straßen- und Wegebau genutzt werden.

Die 130.000 Tonnen Kohle hingegen nerven noch eine gefühlte Ewigkeit in der Atmosphäre herum und fallen dort unseren Kindern und Enkeln auf den Wecker. Auch Photovoltaik-Module haben immer bessere Recycling-Quoten bzw. gibt es erste Firmen, die gebrauchte Solarmodule wieder aufbereiten, so dass diese weiter genutzt werden können.

Zwischenfazit: Ja, auch Erneuerbare verbrauchen Rohstoffe, aber eben viel weniger. Das entlässt uns nicht aus der Verantwortung, Lösungen zu finden, so dass alle Bereiche sorgsam mit den planetaren Ressourcen umgehen. Die Energiewende abzulehnen, weil sie so viele Rohstoffe benötigt, ist aber ähnlich zielführend als würde jemand bei einsetzendem Regen aus Angst, dass sein Porte­mon­naie nass wird, in den Fluss springen.

Letzter Teil: Was kostet uns eine Energiewende?

Das ist einerseits eine sehr berechtigte, andererseits aber auch recht irreführend gestellte Frage, denn durch diese Formulierung bekommen viele Menschen den Eindruck, nur Wind- und Solarkraftwerke kosteten Geld, während Kohle- und Kern- und Gaskraftwerke ja ohnehin schon in der Gegend herumstehen und von einer Schar Hauselfen betrieben werden. Nun ist die Realität aber folgende:

Solltet ihr nicht ungeheures Glück haben und ein Kohlekraftwerk in der örtlichen Free-Your-Stuff-Gruppe auftreiben können, dann kostet so eine Anlage einen ganzen Batzen Geld. Für den berühmt-berüchtigten Kohlekraftwerksblock Datteln 4 liegen die Baukosten zum Beispiel bei 1,5 Milliarden Euro. Musste jetzt im Wahlkampf irgendwer vor der Kamera beantworten, warum das so viel Geld kostet? Nein, ist doch klar, für den Strom natürlich. Was für eine doofe Frage!

Okay, aber warum müssen Politikerinnen und Politiker in diversen Sendungen zur Bundestagswahl dann immer wieder die Frage beantworten, mit welchem Geld denn die Energiewende bezahlt werden soll? „Wie teuer wird die Energiewende für uns?“ ist ein beliebter Aufmacher, um sie in Erklärungsnot zu bringen, während in keiner der vielen Talkshows die lieben Fossil-Onkels gefragt werden, mit welchem Geld denn all der fossile Strom bereitgestellt werden soll.

Und wieso fragen die dann nicht gleichzeitig nach dem Nutzen? Klar, wenn ich mir immer nur die Kosten angucke, dann kann ich damit ja irgendwie jede Investition als vollkommen sinnlos einordnen. „Eine Toilette mit Wasserspülung? Pah, das kostet inkl. Anschluss an die Kanalisation doch tausende Euro“ könnte man sagen, aber dann sitzt man halt auch ständig auf einem zugigen, wenig stimulierenden Plumpsklo im Garten herum, und kann da sein gespartes Geld zählen – will das irgendwer wirklich?

Die Bundesregierung setzt Investitionen für die Energiewende von insgesamt 550 Milliarden Euro an. Nun scheint die Bundesregierung hier aktuell noch auf göttliche Hilfe zu hoffen oder setzt darauf, dass CO2-Moleküle ab dem kommenden Jahr anders mit Wärmestrahlung wechselwirken als die letzten 13,8 Milliarden Jahre, deswegen würde ich jetzt um es richtig pessimistisch zu rechnen das doppelte ansetzen. Bei ambitioniertem Ausbau in nur 10 Jahren wären das 110 Milliarden Euro pro Jahr.

Ja, das klingt erst mal nicht nach einem Schnäppchen, aber was kostet denn fossiler Strom? im Jahr 2019 haben wir allein für Rohöl- und Erdgasimporte 63 Milliarden Euro bezahlt, für Steinkohleimporte zahlen wir aktuell 2,6 Milliarden Euro pro Jahr und der Braunkohleabbau wird mit Hilfen und Steuervergünstigungen in Milliardenhöhe querfinanziert. Das bräuchten wir in Zukunft alles nicht und könnten diese gigantischen Beträge komplett einsparen, und da sind noch keine Kosten für den Bau von Kraftwerken, Pipelines, Raffinerien etc. berücksichtigt. Zudem läge die Wertschöpfung dann im Land, anstatt vergoldete Protzkarren saudischer Prinzen zu finanzieren.

Diese Rechnung ist aber auch aus einem anderen Grund unvollständig: Einen großen Teil der Kosten bezahlen wir aktuell ja gar nicht, sondern überlassen ihn unseren Kindern als sauteures Vermächtnis in Form von Klimafolgekosten. Allein die Flutkatastrophe dieses Jahr kostet uns Steuerzahlerinnen und Steuerzahler voraussichtlich 30 Milliarden Euro. Ich weiß, es ist nicht belegbar, ob die Flutkatastrophe 2021 vom Klimawandel ausgelöst wurde, aber eine weitere Erwärmung macht solche Ereignisse deutlich wahrscheinlicher und wird mehr solcher Kosten verursachen. Mit 30 Milliarden Euro kann man eine Menge Windkraftanlagen installieren, just saying.

Wir benehmen uns aktuell so, als würden wir mit der Familie ins Restaurant gehen, dort fürstlich speisen, am Ende zahlen wir aber nur die Hälfte und stellen für die andere Hälfte einen Schuldschein auf unsere Kinder aus. Dann streicheln wir ihnen über den Kopf und sagen „Na, das war jetzt aber lecker, was? Herr Ober, wir nehmen noch eine Runde Champagner!“ Die energiebedingten Emissionen lagen im Jahr 2019 bei 662 Megatonnen CO2. Selbst bei optimistischen Klimafolgekosten von 200 Euro pro Tonne CO2 entspricht das Klimafolgekosten von 132 Milliarden Euro (!). Nur für das Jahr 2019. Der Begriff „schwarze null“ wirkt vor diesem Hintergrund fast schon zynisch.

Und das sind keine nebulösen Fantasiezahlen, das werden die Generationen nach uns bezahlen müssen für Reparaturen, Lebensmittel, Gegenmaßnahmen, Versicherungsbeiträge und vieles mehr. Sagen nicht irgendwelche bekifften Hippies, sondern erläutert zum Beispiel Frank Best, Professor für BWL an der Uni Konstanz hier sehr anschaulich. Selbst mit dieser echt großzügigen Rechnung kostet uns die Verhinderung der Energiewende doppelt so viel, als wenn wir jedes Jahr 100 Milliarden Euro dafür in die Hand nehmen.

Hinzu kommen noch die zehntausenden verlorengegangenen Jobs und die Schwächung des ganzen Wirtschaftsstandorts, wenn wir hier Firmen im zentralen Energiesektor der Zukunft pleite gehen lassen. Allein die USA wollen im PV-Sektor 1,5 Millionen neue Jobs schaffen, dann liefern die in Zukunft halt Solarmodule in alle Welt. Wenn also jemand sagt, eine Energiewende sei zu teuer, ist das im Grunde eine massive Diskriminierung junger und ungeborener Menschen, auf deren Kosten er/sie aktuell lebt.

Fazit: Die Energiewende scheitert nicht an der Technik. Wir können klimaneutral genug Energie erzeugen und auch speichern. Wir können auch unsere Netze entsprechend ausbauen, sie verbraucht weniger Rohstoffe als fossile Technik und kommt uns viel günstiger als ein Festhalten am alten System.

Was uns dafür aktuell fehlt: Politischer Wille und die Weitsicht, dieses Jahrhundertprojekt endlich mit dem nötigen Ernst anzugehen. In diesem Sinne kann ich nur raten, am übernächsten Sonntag Menschen zu wählen, die das verstanden haben.

_____________________________________________________________________________

Dieser Text wäre nicht zu Stande gekommen, wenn mich nicht viele großzügige Menschen unterstützen würden, die zum Dank dafür in meiner Hall of Fame aufgelistet sind.

Damit der hiesige Blogger sein Leben dem Schreiben revolutionärer Texte widmen kann ohne zu verhungern, kannst Du ihm hier ein paar Euro Unterstützung zukommen lassen. Er wäre dafür sehr dankbar und würde Dich dann ebenfalls namentlich erwähnen – sofern Du überhaupt willst.

How to Energiewende in 10 Jahren, Teil 5: Wie wir unsere Energie für kalte, dunkle Winter speichern können

Herzlich willkommen zu Teil 5 meiner Artikelreihe zur Energiewende. Solltet ihr die vorherigen Teile noch nicht gelesen haben, ist es vermutlich besser, erst mal dort anzufangen. Ihr findet sie hier. Solltet ihr sie schon gelesen, aber längst vergessen haben, was genau drinstand, kommt jetzt ein kurzer „Was bisher geschah“- Absatz:

Wir können in Deutschland mit einem Bruchteil der vorhandenen Fläche sehr viel Strom aus Wind und Sonne erzeugen. So viel, dass wir mit der reinen Energiemenge locker die ineffizienten fossilen Energieträger ersetzen können. Leider kommt diese Energie nicht genau in den Zeiträumen bei uns an, in denen wir sie auch benötigen – wir werden also nicht umhin kommen, einen Teil dieser Energie für den späteren Einsatz zu speichern. Im letzten Teil ging es um Speicher, die Schwankungen innerhalb eines oder weniger Tage ausgleichen können – Batterien, Pumpspeicher und solche Dinge.

Das Ergebnis war, dass wir für diese kurzfristigen Schwankungen jetzt schon einige Optionen haben und die Zukunft noch einige Sensationen in dieser Richtung bereithalten könnte. Die große Frage ist nun aber: Was ist mit langfristigen Speichern*? Ausgerechnet im Winter, wenn die Sonne eine ferne Erinnerung an schöne Augusttage ist und uns bei der Stromerzeugung im Stich lässt, brauchen wir ja besonders viel Energie, um zumindest unsere Wohnungen auf Wohlfühltemperatur zu bekommen.

*Die vorgestellten Flüssigsalzspeicher im letzten Teil könnten die Wärme theoretisch auch über Monate vorhalten, aber praktisch wäre das wohl eine recht teure Angelegenheit.

Wie unpraktisch ist dieser Kontinent eigentlich designt, dass ausgerechnet dann unser Energiebedarf in die Höhe schnellt, wenn so wenig Sonne scheint? Okay, bevor ihr Europa jetzt bei Google Maps mit nur einem Stern bewertet wie dieser Typ, der das mit dem Pazifik gemacht hat: Dafür haben wir im Winter mehr Windstrom. Viel mehr. Wenn wir uns die Stromerzeugung der Jahre 2016 bis 2020 angucken, dann waren die Monate des jeweiligen Jahres, in denen der meiste Wind- und Solarstrom zusammen erzeugt wurde folgende: Februar 2016, Dezember 2017, Januar 2018, März 2019, Februar 2020.

Unerwartet, nicht wahr? Es gibt im Internet hunderte Foreneinträge, Sharepics und Kommentare, die darauf anspielen, dass eine Versorgung mit Erneuerbaren allein schon daran scheitern muss, dass im Winter ja weniger Sonne scheint. Die Verfasser:innen scheinen sich nicht die Mühe gemacht zu haben, ihre Behauptungen mit den öffentlich einsehbaren Daten der deutschen Stromerzeugung abzugleichen, denn da ergibt sich ein anderes Bild: Den meisten klimaneutralen Strom erzeugen wir in den Monaten Oktober bis März, hier mal über die Jahre 2016 bis 2020 kumuliert:

Datenquelle: Energy Charts, eigene Visualisierung

Ist das nicht phänomenal? Die Kurven aus Wind- und Sonne ergeben zusammengerechnet eine viel gleichmäßigere Erzeugungslinie. Gerade so, als hätte eine wohlmeinende Schöpfergöttin Sonneneinstrahlung und Windaufkommen extra für uns so eingerichtet, als sie den Planeten in Auftrag gab (Oder machen Göttinnen so was noch selbst anstatt es outzusourcen?). Und was macht ihre begriffsstutzige Gefolgschaft? Kohle verbrennen, wie undankbar…

Ärgerlicherweise sind Menschenkörper auf ein irrwitzig enges Temperaturspektrum angewiesen und fangen mit entnervend lautem Gejammere an, wenn sie unter 15 Grad Celsius fällt. Selbst wenn Wind- und Solarstrom also recht gleichmäßig Strom ins Netz speisen, so verbrauchen ein paar Millionen Homo Sapiens im Winter schlicht mehr davon. Womöglich hat die Schöpfergöttin beim Design unserer Spezies nicht richtig aufgepasst und mit einem heftigen Ambrosiakater aus Versehen die Checkbox bei „Winterfell“ weggeklickt. Welche Säugetiere laufen denn schon von Natur aus mit nackter Haut rum? Eigentlich nur Menschen und Nacktmulle, ist halt schon mega-unpraktisch. Danke für gar nichts!

Gut, anstatt einem eigenen Fell haben wir jetzt halt beheizte Höhlen und brauchen im Winter entsprechend mehr Energie. Wenn wir Wind- und Solarenergie so ausbauen wie in den vorherigen Teilen skizziert, dann haben wir immerhin schon mal Zugriff auf die Strommenge, die wir insgesamt fürs ganze Jahr brauchen. Aufgrund unserer kälteempfindlichen Körper wird es aber besonders im Winter ein paar Tage geben, an denen der Strom nicht ausreicht, während wir im Sommer manchmal nicht wissen werden, wohin mit dem Zeug.

Wäre es daher nicht großartig, wenn wir die nach menschlichen Maßstäben unendliche Energie der Sonne, die uns im Sommer vor lauter Kraft die Farbe aus den Fassaden bleicht, mit in den Winter nehmen könnten? Ja, wäre es. Nein, ist es! Das Konzept nennt sich „Saisonaler Wärmespeicher“ und wird bei unseren Nachbarn in Dänemark bereits mit zunehmender Begeisterung eingesetzt.

Das funktioniert so: Anstatt mit einer Photovoltaik-Zelle Strom aus Sonnenlicht zu erzeugen, werden Solarkollektoren genutzt, die sich bei auftreffender Sonnenstrahlung direkt erwärmen. Ja, das funktioniert auch in einem Sommer mit Wetterlagen, die nicht gerade zum Campen einladen, denn auch an Tagen ohne blauen Himmel und überfüllte Schwimmbäder liegt die Strahlungsstärke des diffusen Sonnenlichts noch bei 60 Prozent (deswegen könnt ihr auch bei bewölktem Himmel einen Sonnenbrand bekommen).

Unter den Solarkollektoren strömt eine Flüssigkeit durch ein paar Rohre und erwärmt so einen Wasserspeicher. Das gibt es im kleinen Maßstab für einzelne Häuser oder aber im großen Maßstab, und da wird es richtig interessant: In Jütland steht seit fünf Jahren eine Anlage, in der über den Sommer 203.000 Kubikmeter Wasser in einem gut isolierten Becken erwärmt werden:

Saisonaler Wärmespeicher bei Vojens in Dänemark

Das entspricht dem Volumen von 65 olympischen Schwimmbecken. Im September ist das Wasser an der Oberseite des unterirdischen und gut isolierten Beckens dann auf 80 bis 90 Grad Celsius erhitzt und kann diese gespeicherte Wärme über den gesamten Winter an die angrenzenden Haushalte in einem Fernwärmenetz abgeben. Das ist ein Weg, Wärme über Monate effektiv zu speichern. Es gibt noch mehr, aber dieser hier erreicht Wirkungsgrade von 90 bis 98 Prozent, es geht also kaum Energie verloren.

Aber was ist mit Strom? Nun, unsere Kraftwerke erzeugen natürlich auch im Winter Strom. Wie schon weiter oben erläutert, weht der Wind im Winter stärker und so steigt auch der Stromertrag aus der Windkraft in dieser Zeit. Es wird also grundsätzlich eine Menge Tage geben, an denen wir mit direkt erzeugten Strom + Kurzzeitspeichern locker über die Runden kommen. Aber was machen wir an den wenigen Tagen, an denen der Wind nicht dem Plan der Schöpfergöttin folgt und für mehrere Tage ausbleibt, so dass auch die Kurzzeitspeicher irgendwann leer sind?

Einer der am häufigsten genannten und in meinen Augen plausibelsten Ansätze hierzu ist, dass wir mit einem Teil des Überschussstroms Gas herstellen (nennt sich daher auch “Power to Gas”) und dann einfach dieses Gas anstatt des Stroms speichern. Gas ist im Gegensatz zu diesen nervös in der Gegend herumflitzenden Elektronen ja ein eher bodenständiger Energieträger – lässt sich in Flaschen und albernen Spongebob-Ballons abfüllen, harrt monatelang in Lagerstätten aus und ist vielseitig einsetzbar.

Die Idee, mit Hilfe von Strom Gas herzustellen, ist nun beileibe nichts neues. Kaum hatte Alessandro Volta (der überaus smarte Typ, nach dem die Einheit “Volt” benannt ist) im Jahr 1800 die erste leistungsfähige Batterie erfunden, machten sich seine Kollegen nur ein Jahr später daran, Wasser mit Hilfe von Strom in Wasserstoff und Sauerstoff auftrennen – die Elektrolyse war erfunden. 102 Jahre später fand ein gewisser Paul Sabatier heraus, wie man in einem weiteren Schritt aus dem Wasserstoff Methan herstellt und erfand somit die Methanisierung.

Methan wiederum ist neben seiner unrühmlichen Rolle in den Ausscheidungen von Kühen auch der Hauptbestandteil von Erdgas. Man könnte auch sagen: Methan IST Erdgas, nur halt nicht aus der Erde, sondern in unserem Fall aus der Methanisierung. Wir können damit wie mit dem fossilen Gas Heizungen und Erdgas-PKW betreiben, oder aber *hörbares Einatmen* daraus in einem Gaskraftwerk wieder Strom machen!

Aber halt, entsteht beim Verbrennen dieses Gases dann nicht auch wieder CO2? Wieso sollte das nicht genauso klimaschädlich sein wie das Verbrennen von Erdgas mit Gerhard Schröders Konterfei auf dem Werbeprospekt? Weil wir uns das CO2 erst aus der Atmosphäre schnappen und dann beim Verbrennen wieder entlassen. Der wunderbare Klaus vom YouTube-Kanal „Joul“ hat das hier schön visualisiert:

Rezept für Methan-Cupcakes: Man nehme eine handelsübliche Atmosphäre, entnehme ihr 4 Wasserstoffmoleküle (H2) und ein CO2-Molekül, vermenge das ganze mit einem Stabmixer zu einem gleichmäßigen Gas, stelle es so bei 300 Grad in den vorgeheizten Backofen (Bei Umluft nur 280 Grad) und wenn alles klappt werden daraus ein Methan-Molekül (CH4) und 2 Wasser-Moleküle (H2O) jetzt nur noch abschmecken und mit Schokostreuseln garnieren und fertig ist das Methan.

Typischer Anfängerfehler bei der Zubereitung von Methan-Cupcakes: Keine feuerfesten Klamotten

Wenn ich dieses Methan nun wieder verbrenne, entsteht dabei exakt so viel CO2, wie zuvor bei der Methanisierung aus der Umgebungsluft stibitzt wurde. Der gesamte Vorgang erhöht die CO2-Menge der Atmosphäre also nicht. Solltet ihr euch dennoch wundern, weil Methan doch als “Klimakiller” gilt: Das tut es nur bezogen auf seine Wirkung, wenn es einfach so in die Atmosphäre entweicht, ohne verbrannt zu werden, z.B. als Flatulenz oder Rülpser einer Kuh.

Und nun das Sahnehäubchen: Methan können wir exzellent in unserem Erdgasnetz aufbewahren, bzw. genau das tun wir seit Jahrzehnten. Ja, wir haben ein Erdgasnetz, und es ist enorm monströs. Schon lustig, wie wenig Gedanken man sich darüber macht, solange der eigene Hintern im Winter schön warm bleibt. Daher für alle, denen das bislang genauso egal war wie mir, das sind nur die Fernleitungen dieses Netzes:

Hinzu kommt noch eine Vielzahl engmaschigerer Verteilnetze, die sinnvollerweise bis in unsere Häuser führen und die Karte vermutlich ziemlich unleserlich gemacht hätten, wollte man sie alle einzeichnen: Zusammen ist das komplette Netz 511.000 Kilometer lang (unsere Autobahnen kommen “nur” auf 13.000 Kilometer) und fasst 25 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Ja, das ist gigantisch dimensioniert, es wurde mutmaßlich auch mit dem Hintergedanken entworfen, im Notfall russische Lieferstopps abpuffern zu können. Mit diesem Gas können wir nun gewöhnliche Gaskraftwerke betreiben (wie heute auch schon), die uns aus dem Gas wieder Strom machen.

Mit vollem Netzspeicher würde das Gas darin ausreichen, um Deutschland über Monate mit Strom zu versorgen (157 Terawattstunden). Die Menge würde z.B. den kompletten Strombedarf decken, den wir von Juli 2020 bis Oktober 2020 hatten. Nun ist eine komplette viermonatige Windflaute in etwa so wahrscheinlich wie dass Kanye West irgendwann noch mal über das Gesangstalent von Freddie Mercury verfügt (forget it). Der deutsche Wetterdienst hat berechnet, mit wie vielen Situationen tatsächlich zu rechnen ist, in denen über 48 zusammenhängende Stunden kein erneuerbarer Strom erzeugt werden kann:

Setzt ein Land allein auf Windstrom an Land, ist mit 23 solcher Ereignisse pro Jahr zu rechnen. Mit Windstrom an Land und auf See sind es nur noch 13 Ereignisse pro Jahr und im Verbund von On- und Offshore-Windstrom + Solarkraft schrumpft die Zahl dieser Ereignisse auf 2 pro Jahr.

Ja, das klingt fast schon zu einfach. Wieso machen denn alle so ein Gewese um das ganze Thema, wenn wir so einen riesigen Speicher für so winzige Lücken zur Verfügung haben? Weil die Umwandlung von Strom zu Methan und wieder zurück zu Strom einen Nachteil hat: Sie ist recht verlustbehaftet. Für jede Kilowattstunde Strom, die ich mit einem Windrad oder einem PV-Modul erzeuge und dann per Methanisierung speichere, bekomme ich am Ende nur einen Teil wieder zurück.

Stellt euch einfach vor, unsere Energiespeicher wären Wasserbehälter zum Blumen gießen. Unsere Batterien wären dann einfach normale Gießkannen, von deren Inhalt fast das ganze Wasser bei den Blumen ankommt, sofern man einigermaßen nüchtern ist. Der Power-to-Gas-Ansatz hingegen ist wie ein löchriger Gartenschlauch. Super für echt große Mengen Wasser, verteilt aber eben auch eine Menge davon sinnlos im Hof. Zugegeben, nach dem “Sommer” 2021 ist das vermutlich keine sonderlich abschreckende Metapher, aber stellt euch vor, dass das Blumenbeet in der Atacama-Wüste liegt und ihr mit dem Wasser sparsam umgehen müsst, weil jeder Liter teuer bezahlt sein will.

Die vielversprechendsten Projekte stellen einen Wirkungsgrad von 80 Prozent für die Methanisierung in Aussicht und dann wiederum 63 Prozent Wirkungsgrad beim Verstromen dieses Gases. Bedeutet: Wenn euer Windrad 100 kWh Strom erzeugt hat, dann kann die Demonstrationsanlage des HELMETH-Projekts der Uni Karlsruhe damit Methan herstellen, in dem 76 kWh Energie gebunden sind – für den industriellen Maßstab hofft man auf 80 Prozent, also 80 kWh. Die besten Gaskraftwerke Europas machen aus dieser Gasmenge dann wiederum 50 kWh Strom, wir haben also selbst in diesem Idealfall die Hälfte der ursprünglich mal mit dem Windrad gewonnenen Energie verloren.

Genau das ist der Grund, warum wir Energiewende-Nerds immer so auf Kriegsfuß mit Wasserstoff und E-Fuels in PKW stehen: Durch die Umwandlung geht immer sehr viel Energie verloren. Eine sinnvolle Maßgabe wäre daher: Wir versuchen in allen Sektoren so gut es geht mit den Gießkannen zu arbeiten und greifen nur auf den löchrigen Gartenschlauch zurück, wenn es nicht anders geht bzw. konkret in diesem Fall: Wir benutzen nur dann methanisiertes Erdgas als Strompuffer, wenn es in wirklich seltenen Wetterlagen notwendig ist.

Zudem reden wir da ja von einem Zielpunkt in vielen Jahren, an dem das Stromnetz nach dem in dieser Artikelreihe skizzierten Plan ganz anders aussieht als heute. Selbst wenn uns das Wetter in dieser Zukunft mal im Stich lässt, würde der deutlich ausgebaute Kraftwerkspark immer noch etwas Strom erzeugen – zwar nicht genug, aber eben auch nicht null. Als Beispiel für so eine Wetterlage wird gerne der Januar 2017 angeführt: Vom 16.01. bis zum 25.01. dieses Jahres herrschten in weiten Teilen des Landes Nebel und Windstille, flexible Gaskraftwerke mussten für die Erneuerbaren einspringen.

Würde uns diese Wetterlage aber in einem Jahr 2035 ereilen, indem wir unseren Kraftwerkspark auf 1.500 Terawattstunden Wind- und Solarstrom ausgebaut haben, hätten wir schon 6,7 mal so viel Wind- und 8 mal so viel Solarleistung installiert wie 2017. Selbst die wirklich magere Ausbeute des 17.01.2017 hätte dann immerhin knapp die Hälfte des Bedarfs gedeckt. Ab dem 27.01.2017 hätten wir außerdem bereits wieder Überschüsse zur Verfügung gehabt, um diverse Speicher aufzufüllen.

Und selbst diese Rechnung gilt nur, wenn wir die Ambition verfolgen, uns autark und komplett unabhängig von unseren europäischen Nachbarn zu versorgen – aber wollen wir das denn? Wie oben bereits erläutert treten Laut deutschem Wetterdienst 48 Stunden mit ausbleibendem EE-Strom statistisch 2 mal pro Jahr auf – in Deutschland. Dass solche Wetterlagen allerdings den gesamten Kontinent nerven, ist nochmal 10-mal unwahrscheinlicher, gerade mal 0,2 solcher Ereignisse pro Jahr werden geschätzt. Ein europäisches Verbundnetz aus Wind- und Solarkraftwerken könnte also ein paar charmante Vorzüge haben (aber auch Nachteile, dazu mehr in Teil 6).

Während einer Flaute über Deutschland könnte unser Netz mit britischem Wind- und spanischem Sonnenstrom entlastet werden. Sollten wir hingegen ordentlich Überschüsse verzeichnen, können Teile davon in ein wolkenverhangenes Italien exportiert werden und so weiter. Schlägt man so was im Internet vor, lässt Häme nicht lange auf sich warten: “Schnapsidee, dann sind wir ja von Energielieferungen aus anderen Ländern abhängig!” schallt es dann umgehend durch den virtuellen Äther.

No shit, Sherlock. Deutschland von anderen Ländern abhängig, klingt ja wirklich beängstigend! Ich weiß echt nicht, wie oft ich schon vorgeworfen bekommen habe, dass bei uns mal kein Wind weht und wir dann Atomstrom aus Frankreich  importieren müssen. Von Leuten, durch deren Heizungstherme russisches Gas fließt, deren Auto mit kasachischem Erdöl fährt und für deren Strommix australische Steinkohle verbrannt wird (dazu mehr in Teil 6).

Und was ist eigentlich mit unserem Strom aus Biomasse? So zuverlässig wie das Erscheinen von Weihnachtsgebäck im spätsommerlichen Supermarktregalen speisen unsere verstromten Bioabfälle und Energiepflanzen rund um die Uhr ca. 4,6 Gigawatt ins Netz. Das hier ist die Stromerzeugung der vorletzten Woche, unser Biomassestrom ist der recht stoisch wirkende grüne Balken:

Nettostromerzeugung in Deutschland in Woche 33 / 2021

Legende von unten nach oben: blau = Laufwasser, grün = Biomasse, rot = Kernkraft, braun = Braunkohle, grau = Steinkohle, orange = Gas, hellblau = Pumpspeicher, mintgrün = Wind, gelb = Solar

Aber warum ist das so? Selbst wenn Wind- und Solarkraft deutlich mehr Strom einspeisen können als wir brauchen (siehe z.B. 17.08.) laufen die Biogasanlagen zuverlässig, aber recht nutzlos vor sich hin. In Zukunft könnte all das Biogas doch ebenfalls wie ein großer Speicher verwendet werden und primär dann zum Einsatz kommen, wenn die Wetterlage es erfordert. Bei ordentlich Sonne und Wind brummen die Netze und die Speicherstände füllen sich, bei Flaute an düsteren Wintertagen, an denen man eigentlich nur die The-Cure-Diskographie durchhören kann, greifen wir auf Speicher voller Biogas und Methan zurück.

Das schöne an dieser Lösung ist, dass wir eine Menge der benötigten Infrastruktur schon haben: Das Erdgasnetz ist schon da und unsere Gaskraftwerke können bereits 30 Gigawatt leisten. Ja, das müssen wir noch ausbauen, damit es als vollständige Backup-Lösung funktionieren kann, aber wir fangen halt nicht bei null an. Am meisten fehlt dafür aktuell eigentlich ein massiver Zubau in Wind- und Solarkraft und dazu entsprechende Anlagen, die aus dem Strom Wasserstoff und aus dem Wasserstoff wiederum Methan machen, hier auf dem Bild in der Größe von zwei Schiffscontainern zu sehen:

Demonstrationsanlage des Projekts HELMETH verbindet Methanisierung (links) und Elektrolyse (rechts) mit einem Wirkungsgrad von 76 Prozent

Aber woher sollen wir vorher wissen, wie viel Methan wir in einem Jahr brauchen? Tja, das im Vorhinein genau zu sagen ist in der Tat ähnlich unwahrscheinlich wie eine Vorhersage der Lottozahlen. Der Vorteil ist: Wir werden ohnehin mehr klimaneutrales Methan und auch Wasserstoff brauchen, denn daraus können wir nicht nur Strom machen, sondern es in allerlei Branchen einsetzen, die mit EE-Strom allein nicht weit kommen:

Stahlwerke benötigen Wasserstoff zur Herstellung klimaneutralen Stahls (der schwedische Stahlkonzern SSAB hat laut eigenen Angaben bereits solchen Stahl hergestellt und ausgeliefert). Schiffe kommen auf der Langstrecke mit Batterien noch nicht weit und in ungedämmten Altbauten reicht eine Wärmepumpe für das Beheizen oft nicht aus.

Als ich das zum ersten mal so gelesen habe war mein spontaner Gedanke dazu: Das klappt doch nie! Wir leben in einem Land, das nach 1,5 Jahren Pandemie langsam und unkoordiniert damit beginnt, Luftfilter für Schulen zu bestellen – mit entsprechend ernüchterndem Ergebnis. Und da geht es nur um ein paar kleine Kisten im Wert von jeweils wenigen tausend Euro, die man einfach nur an die Steckdose in Klassenräumen anschließen muss.

Und jetzt müssen wir den Energiebedarf eines von 83 Million Menschen bevölkerten Industrielandes abschätzen und uns überlegen, wie viel wir davon direkt mit Wind- und Solarstrom abdecken und wie viel davon stattdessen mit hohen Verlusten für schlechtes Wetter speichern? Was ich in diesem Moment nicht bedacht habe, ist Folgendes:

Was auch immer wir tun, wir agieren mit Netz und doppeltem Boden, denn was ist das Schlimmste, das passieren kann? Ja, wir könnten uns kolossal verkalkulieren und krass zu viel oder viel zu wenig klimaneutrales Methan bereitstellen. Zu viel wäre kein Problem, Methan wird ja nicht schimmelig. Und wenn wir zu wenig haben, was dann? Nun, dann kaufen wir den fehlenden Teil halt im Ausland ein, so wie wir das aktuell ja ohnehin im großen Stil tun. Ja, das wäre ärgerlich wegen der entstehenden CO2-Emissionen, aber wir hätten keinen Stromausfall zu befürchten. Der absolute Worst Case der Zukunft wäre der Standard von heute: Wir müssen Energie teuer und klimaschädlich im Ausland einkaufen.

Zudem stellen wir das System ja nicht an einem Sonntagabend von null auf hundert und rennen dann am Montagmorgen wild mit den Armen fuchtelnd und schreiend durch die Büros wie die Belegschaft von Sliced Bread:

Alle Teile der Energiewende müssen Schritt für Schritt umgesetzt werden, so dass wir bereits in den ersten Jahren sehen können, wie gut die Kopplung der verschiedenen Sektoren funktioniert und ob bzw. wie wir den Plan nachjustieren müssen.

  • Wollen wir alle unsere Wohnungen und Firmen mit Wärmepumpen heizen oder doch lieber mehr von diesen Becken voller heißem Wasser installieren, die die Wärme des Sommers gespeichert haben?
  • In welcher Aufteilung wollen wir Wind- und Solarkraft installieren? Ist 50:50 die effektivste oder lohnt es sich z.B. eher, die Windkraft stärker auszubauen, weil diese genau dann mehr Strom liefert, wenn unser Heizbedarf am höchsten ist?
  • Funktionieren diese Flüssigsalzspeicher in alten Kohlekraftwerken gut oder bewähren sich die Betonkugeln am Grund von Seen besser? Oder stellen sich beide Ansätze als den neuen Batteriezellen hoffnungslos unterlegen heraus?
  • Überbrücken die Batterien der Zukunft vielleicht ohnehin die meisten Wetterkapriolen, so dass wir gegen Stromlücken kaum Power 2 Gas einsetzen müssen und dafür mehr davon in Schiff- und Luftfahrt einsetzen können?

Das können wir alles noch nicht wissen. Ohne ein bisschen Trial & Error lässt sich so ein riesiges Projekt wohl nicht umsetzen. Aber das muss es auch nicht. Selbst wenn wir nach 10 Jahren Energiewende merken, dass uns irgendein einzelner Faktor gehörig den Plan ruiniert hat und wir unseren Bedarf nur zu 80 Prozent mit klimaneutraler Energie decken können, dann wäre das ja immer noch ein grandioses Zwischenfazit und wir müssten für die restlichen 20 Prozent noch mal ein paar Jahre nachsitzen.

Fazit: Die Technologie ist schon da. Damit sie auch in der Praxis ankommt, müssen wir sie jetzt nur mal einsetzen.

Aber wie viel wird das kosten und woher nehmen wir die Rohstoffe dafür? Darum wird es im letzten Teil gehen.

______________________________________________________________________________

Dieser Text wäre nicht zu Stande gekommen, wenn mich nicht viele großzügige Menschen unterstützen würden, die zum Dank dafür in meiner Hall of Fame aufgelistet sind.

Damit der hiesige Blogger sein Leben dem Schreiben revolutionärer Texte widmen kann ohne zu verhungern, kannst Du ihm hier ein paar Euro Unterstützung zukommen lassen. Er wäre dafür sehr dankbar und würde Dich dann ebenfalls namentlich erwähnen – sofern Du überhaupt willst.

How to Energiewende in 10 Jahren, Teil 4: Aber was machen wir, wenn nachts mal kein Wind weht?

Herzlich willkommen zu Teil 4 meiner Artikelreihe zur Energiewende. Solltet ihr die vorherigen Teile noch nicht gelesen haben, ist es vermutlich besser, erst mal dort anzufangen. Sie beginnen hier. Solltet ihr sie schon gelesen, aber längst vergessen haben, was genau drinstand, kommt jetzt ein kurzer „Was bisher geschah“-Absatz:

Bei einer Energiewende werden nicht nur die Emissionen reduziert, sondern auch die Menge an Energie, die verbraucht wird. Das klingt erst mal seltsam, ist aber plausibel, weil nicht-fossile Technik deutlich effizienter ist als das Verbrennen von Sachen, die wir aus der Erde buddeln. Anstatt den heutigen 3.500 Terawattstunden verbrauchen wir dann nur noch 1.500 Terawattstunden Energie. In Teil 2 und 3 haben wir durchgerechnet, wie wir diese Energiemenge mit Wind- und Solarstrom locker bereitstellen können, ohne dafür nennenswert zusätzliche Flächen zu verbrauchen. Unser gesamter Energiemix sah durch Einsatz von Agri-Photovoltaik am Ende so aus:

Der unordentliche Batteriehaufen auf der rechten Seite war zwar lustig gemeint, enthält aber einen wahren Kern: Entscheidend ist nicht, wie viel Energie wir per Wind- und Solarstrom zur Verfügung stellen können, sondern wollen. Entgegen vielfacher Stammtischsprüche kann das nur scheinbar so kleine Deutschland mit dem ach so vielen Regenwetter mit Wind und Sonne mehr Energie bereitstellen, als wir brauchen. Okay, aber wo ist dann überhaupt die Herausforderung? Sie liegt im Umstand begründet, dass Sonne und Wind sich benehmen wie ein paar divenhafte Hauskatzen und in der Regel machen, wozu sie gerade spontan Lust haben.

Anstatt einfach mal dann zu scheinen/zu wehen, wenn unsere Fabriken gerade Strom brauchen, räkeln sich diese störrischen Energiequellen allzu oft in der Gegend herum und scheren sich überhaupt nicht um unsere Quartalszahlen (Friedrich Merz ist empört). Stattdessen brennt die Sonne an langweiligen Sonntagnachmittagen vom Himmel und ballert uns ausgerechnet dann haufenweise Photonen um die Ohren, wenn wir ohnehin alle im Schwimmbad liegen. Um diesem wankelmütigen Zentralgestirn Herr zu werden, werden wir einen Teil des Solarstroms (und auch des Windstroms) also speichern müssen, und hier kommen wir zu Teil 4:

Das ist womöglich der umstrittenste Punkt des ganzen Vorhabens und wird in Kommentarspalten entsprechend heftig diskutiert. Daher hier nochmal ein Shoutout an alle, die das Ganze skeptisch sehen: Ich kann sehr gut nachvollziehen, wenn ihr kritische Fragen und Bedenken dazu habt. Mehr noch als die gesamte Energiewende wird die Speicherfrage in den Medien oft als unlösbares Problem dargestellt.

Hier und da wird mal eine kleine Insellösung vorgestellt, aber von einem robusten, überzeugenden Konzept, wie damit der Energiebedarf des bevölkerungsreichsten Landes der EU sichergestellt werden soll, ist selten etwas zu sehen. Eine der wenigen wohltuenden Ausnahmen ist diese Folge von „Leschs Kosmos“, aber bei den mutmaßlich erschütternd geringen Einschaltquoten von Wissenssendungen ist es irgendwie naheliegend, dass diese nicht sonderlich viele Menschen erreicht hat.

Das kommt jetzt also vielleicht etwas unerwartet, aber entgegen der landläufigen Meinung laufen in Deutschland bereits jetzt Energiespeicher. Es sind natürlich viel zu wenig, aber es gibt sie, sie funktionieren und wären vermutlich todunglücklich über die Erkenntnis, wie unbekannt sie sind. Vorrangig sind das Pumpspeicherkraftwerke. Passend zum Namen pumpen sie bei Stromüberschüssen Wasser aus Tälern in hoch gelegene Stauseen, so dass es bei hohem Strombedarf wieder durch eine Turbine abfließen kann und dabei Strom erzeugt.

Pumpspeicherkraftwerk Niederwartha vom Radebeuler Wasserturm aus, Bild von Jbergner lizenziert nach CC BY-SA 4.0

Vorteil: Das ist ein recht robustes Konzept, bei dem wir immerhin 70 Prozent des Stroms, den wir fürs Hochpumpen verwendet haben, wieder zurückgewinnen.

Nachteil: Es gibt für diese klassische Bauweise nur begrenzt Standorte im Land und selbst mit den bereits 26 existenten Pumpspeichern können wir nur knapp 40 Gigawattstunden Energie speichern. Das entspricht ca. 3 Prozent der Strommenge, die Deutschland an einem Tag verbraucht.

Aber was ist mit Batterien? Ja, dass sie nicht als ausschließliche Lösung des Problems in Frage kommen, haben wir ja schon in Teil 1 geklärt. Ich habe mehrere Zuschriften mit der Bitte bekommen, diese gigantische Batterie dennoch auf der Indoor-Skihalle bei Bispingen zu platzieren, aber das wäre einfach ziemlich teuer. Dennoch werden Batterien eine Rolle spielen – allerdings nicht als riesige, an BORG-Raumschiffe erinnernde Klumpen, sondern als viele Millionen Einzelspeicher.

Das ist auch ein Grund, warum ich Artikel über E-Autos schreibe, obwohl ich eigentlich Verkehrswendeaktivist bin: 20 Millionen davon mit mittelgroßer Batterie (53,5 Kilowattstunden) können zusammen ungefähr so viel Strom speichern, wie ganz Deutschland letzten Sonntag insgesamt verbraucht hat. Ja, mit dem Strom wollen die Menschen eigentlich ihr Auto fahren, schon klar, aber die wenigsten verbrauchen wirklich so viel. Ein deutscher PKW fährt im Schnitt 40 km pro Tag, dafür benötigt der elektrische Mittelklasse-ID.3 von VW gerade mal 8 Kilowattstunden.

All die Menschen, deren Auto die meiste Zeit in der Garage steht, könnten ihrem Stromanbieter also erlauben, das eigene Auto als Puffer mitzubenutzen. Ist das Netz mittags voller Wind- und Sonnenstrom, wird es aufgeladen. Geht der Strombedarf aber gegen Abend hoch und die Solarzellen in den Schlummermodus, könnte der Netzbetreiber die Batterie des Autos bis zu einer definierten Mindestmenge entladen. Zusätzlich eignen sich stationäre Stromspeicher im Keller des eigenen Hauses, um sie mit eigens erzeugtem Solarstrom aufzuladen. Laut dieser Studie lassen sich bis zu 80 Prozent des privaten Strombedarfs durch Photovoltaik auf dem Dach in Verbindung mit Stromspeichern decken. Das kommt euch viel vor? Nun, die Erzeugung von Wind- und Sonnenstrom sieht im Sommer häufig so aus, gelb-rot entspricht dem Solarstrom, der Rest ist Windstrom:

Zwischen 10 und 16 Uhr speisten die über Deutschland verteilten PV-Module an diesen Beispieltagen 20 Gigawatt Strom ins Netz, das entsprach in der gleichen Woche der Leistung aller Braunkohle- und Kernkraftwerke zusammen. Das ist einerseits wunderbar viel klimaneutral erzeugter Strom, aber leider wissen wir zur Spitzenzeit jetzt schon nicht, wohin damit. Diese Wellenform ist also irgendwie ganz hübsch, aber gleichzeitig auch entsetzlich unpraktisch, besonders wenn wir auch nach Sonnenuntergang noch mal den Staubsauger anwerfen wollen. Bei einem weiteren Ausbau der Kapazitäten verstärkt sich dieser Effekt sogar noch.

Wir brauchen also einen Weg, um aus dieser Hügelkette einen gleichmäßigeren Verlauf zu machen. Ein Weg: Wir nehmen den überschüssigen Strom in den Spitzenzeiten, speichern ihn und verbrauchen ihn dann, wenn die Sonne sich mal wieder mit der anderen Seite des Planeten vergnügt. Aber wie? Batterien sind doch viel zu teuer für so was, oder? Das liest man doch ständig auf diesen Facebook-Seiten wie „NUR DIE WARHEID!“ und „WIR DENKEN NOCH SELBST!“

Jein. Grundsätzlich liegt die Stärke von Batterien darin, dass sie innerhalb von Sekundenbruchteilen auf Lücken im Stromnetz reagieren können und geringe Verluste auftreten. Sie sind also sehr effektive Speicher, deren Einsatz nur unschön teuer wird, wenn die zu speichernden Mengen zu groß werden. „Teuer“ ist aber auch hier relativ zu verstehen, denn die Menschen des Jahres 2010 konnten von den bis heute eingetretenen Kostenrückgängen nur träumen:

Diese sensationellen Preisstürze sorgen dafür, dass wir die aus dem Alltag nicht mehr wegzudenkenden Lithium-Ionen-Batterien nur 10 Jahre später als große Speicher einsetzen können. Sie sind nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie die Batterien in eurem Handy, eurem E-Auto und eurer elektrischen Zahnbürste, nur einfach tausendfach zu einem großen Speicher zusammengeschaltet. Und wie auch bei den Pumpspeicherkraftwerken gibt es solche Speicher bereits in Deutschland.

Die größte Speicherbatterie der EU für solche Zwecke steht in Schleswig-Holstein, nördlich von Jardelund (unten im Bild vor dem Umspannwerk und praktischerweise vor zahlreichen Windkraftwerken):

größter Batteriespeicher der EU in Schleswig-Holstein

Nein, das ist kein Screenshot einer verlogenen Marketing-Broschüre, ihr könnt die Anlage auch bei Google Maps finden, auf dem Weg zum nächsten Nordsee-Urlaub dort anhalten und den Kindern ein Stück Energiewende zeigen, hier:

Aber wer in aller Welt nennt eine Straße „Lecker Au“? Ist die nach einem Torfstecher benannt, dem seine überaus schmackhaften Pfannekuchen auf den Fuß gefallen sind? Sollten die Kinder das erwartungsgemäß „megalangweilig“ finden, setzt ihr sie solange beim 500 Meter entfernten DJ-Ötzi-Double ab – wobei das eine echt üble Geräuschkulisse auf der Weiterfahrt verursachen könnte.

Wie auch immer, diese Anlage speichert ungefähr so viel Strom wie 1.000 mittelgroße E-Autos (50 Megawattstunden), kann also bei nächtlicher Flaute, wenn weder Wind weht noch Sonne scheint, so viel Strom liefern wie 5.000 Haushalte an einem Tag verbrauchen. Bevor in den Kommentaren jetzt hundertmal die Frage kommt, ob Deutschland wieder mal allein die Welt retten soll: Es gibt weltweit bereits Dutzende solcher und auch deutlich größerer Anlagen.

In England ist letzten Monat eine dreimal so große Anlage ans Netz gegangen, in Australien steht bereits seit 2019 eine viermal so große Anlage und China errichtet gerade eine 16-mal so große Anlage*, die sogar ohne Lithium auskommt. Gegenüber Batterien in Autos und Handys haben stationäre Speicheranlagen nämlich den Vorteil, dass es nicht ganz so entscheidend ist, wie groß die Batterien sind. Das eröffnet dem Einsatz eines ganz anderen Batterietyps Tür und Tor: den sogenannten „Redox-Flow-Batterien“.

*Mit Größe ist hier natürlich die Speicherkapazität gemeint

Diese sind noch mal deutlich robuster als Lithium-Ionen-Batterien und nicht brennbar, wodurch sie in der chinesischen Anlage unmittelbar neben den Büros eingesetzt werden können und diese noch mit der Abwärme beheizen können, die beim Aufladen der Batterien entsteht. Ein Nachteil dieses Batterietyps ist wie gesagt, dass sie größer sind als die Lithium-Ionen-Geschwister – das ist beim Einsatz in Handys und E-Autos problematisch, spielt bei stationären Anwendungen wie solchen Großspeichern aber keine große Rolle.

Der zweite Nachteil war bislang der Preis, die Redox-Flow-Batterien sind immer noch etwas teurer. Nun können beide Batterietypen in Zukunft noch günstiger in der Herstellung werden. Die Lithium-Ionen-Branche hat ja bereits sensationelle Kostensenkungen hervorgebracht, aber auch bei der Redox-Flow-Batterie gibt es Forschungsdurchbrüche in Richtung Massenmarkt. Ganz grundsätzlich läuft die Batterieforschung weltweit auf Hochtouren, eventuell speichern wir unseren Strom in Zukunft auch in Batterien mit einer Zellchemie, die gerade erst erfunden wird, das dürfte noch interessant werden.

Ein Ende der Entwicklung ist aktuell zumindest noch nicht abzusehen, es bleibt spannend. Das Fraunhofer-Institut hat in dieser Studie verschiedene Szenarien für den Ausbau unserer Batteriespeicher abhängig von der gesellschaftlichen und politischen Stimmung skizziert, und der Ausbau geht eigentlich in allen ordentlich nach oben:

Studie zum Batterieausbau

Und das beste daran: Diese Batterien müssen wir nicht alle exklusiv für die Speicheranlagen bauen, sondern können sie auch aus alten E-Autos nehmen. Wenn diese nur noch 80 Prozent ihrer Kapazität abrufen können, gelten sie als für E-Autos nicht mehr brauchbar, aber für stationäre Speicher ist das ein vollkommen akzeptabler Wert. Die Batterien bekommen dann ein sogenanntes Second Life. So betreibt Vattenfall bereits einen Speicher für Windstrom, der aus 700 alten Batterien aus dem BMW-i3-Modell besteht. Wenn in ein paar Jahren tausende Tesla-, Renault- und Hyundai-Batterien in ihr Second Life wechseln, ist das also erst mal kein Müll-Problem sondern eine riesige Chance für die Energiewende.

Mit Batterien können wir also schon etwas machen, wenn es darum geht, die Fluktuationen innerhalb eines Tages abzufangen. Es gibt aber auch weitere Möglichkeiten, um die während des Tages geerntete Energie bis in die Nacht hinein zu speichern, und eine davon ist wirklich unerwartet. Jetzt haltet euch fest bzw. setzt euch hin, es sind allen Ernstes: Kohlekraftwerke. Nein, ich werde nicht von RWE erpresst oder so, es handelt sich hierbei um ein Konzept des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt:

Anstatt den ganzen Überschussstrom in Batterien zu laden, kann man damit nämlich auch einfach irgendwelche Sachen erwärmen und sich dann ziemlich lange an der Wärme erfreuen. Schon im Mittelalter legten von der Kälte geplagte Menschen Steine ins Feuer ihrer Öfen, mit denen sie dann ihre Betten erwärmten, Speisen warmhielten oder der Burgwache eine Nacht ohne abgefrorene Füße gönnten.

Im Jahr 2021 nutzen wir nun keine Steine, sondern mehrere Tonnen Flüssigsalz und die erwärmen wir idealerweise auch nicht in unserem Backofen, sondern in einer entsprechend großen Anlage auf bis zu 560 Grad Celsius. Salz schmeckt nämlich nicht nur prima zu Pasta, sondern hat auch die praktische Eigenschaft, Wärme dreimal besser speichern zu können als Wasser. Diese gespeicherte Wärme können wir später wieder zu Strom machen, wenn die Erdrotation unsere Solarzellen mal wieder in Dunkelheit getaucht hat.

Mit unserem superheißen Salz bringen wir dann schlicht Wasser zum Kochen, das anschließend als Dampf durch ein paar Turbinen jagt, welche durch die Drehung wie ein Fahrraddynamo Strom erzeugen (so funktioniert das ja in jedem heutigen Gas-, Kern- oder Kohlekraftwerk auch). Und hier kommen die Kohlekraftwerke ins Spiel, denn Rohrsysteme für Wasserdampf, Turbinen und entsprechend dicke Stromleitungen sind da ja ohnehin schon drin verbaut.

Screenshot aus Energieforum

Wir müssen einfach nur den ganzen Plunder wegwerfen, in dem momentan Kohle verbrannt wird, und durch unseren großen Flüssigsalzbehälter ersetzen, und fertig ist das klimaneutrale „Salzspeicherkraftwerk“. Das ist meine Wortschöpfung, bitte benutzt sie nicht in Unterhaltungen mit Profis, die schlagen sich vermutlich ohnehin schon die Hände vor den Kopf angesichts der laienhaften Formulierungen hier. Das DLR nennt die Dinger „Hochtemperaturwärmespeicher“.

Aber der Vorteil liegt auf der Hand, oder? Nachdem wir aus hunderten Tonnen Beton unsere Kohlemeiler konstruiert und dabei viele tausend Tonnen CO2 für den Bau die Luft geblasen haben, wäre es ja schade, das alles wieder in der Restmülltonne entsorgen zu müssen.

Grundsätzlich ist das auch nicht der einzig denkbare Aufbau für die Grundidee, aus Überschussstrom Wärme und aus der Wärme wieder Strom zu machen und dafür alte Kraftwerke umzubauen. Ein anderer Ansatz für sogenannte elektrisch-thermische Energiespeicher steht bereits in Hamburg Altenwerder, darin erwärmt Windstrom Vulkanstein und speichert darin auf diese Weise 30 Megawattstunden Energie – das ist gut die Hälfte der Energie, die das weiter oben vorgestellte Batteriespeicherwerk an der dänischen Grenze vorhalten kann (eine Anlage mit der 10-fachen Kapazität ist aber bereits geplant).

Gut, ob das Konzept am Ende auch in größerem Maßstab so funktioniert, kann heute vermutlich niemand seriös beantworten. Es gibt auch noch verschiedene andere Konzepte, die ich hier nur mal kurz anreiße:

  • Bei Druckluftspeichern wird mit Überschussstrom Luft in unterirdische Kavernen gepresst, so dass diese unter Druck steht. Bei Strombedarf entlässt man die Luft durch eine Turbine nach draußen, die dann wieder Strom erzeugt, allerdings geht dabei viel Energie durch Wärme verloren.
  • Ein Kugelpumpspeicher besteht aus hohlen Kugeln am Grund von Gewässern, die mit Überschussstrom leergepumpt werden und bei Strombedarf wieder volllaufen. Hierzu gibt es bereits erfolgreich getestete Prototypen, wie z.B. das „Meer-Ei“ im Bodensee (grandioser Name), das laut Scinexx 90 Prozent des eingesetzten Stroms wieder zurückgewinnen konnte.

    Die hinter diesem Projekt stehenden Forscher des Fraunhofer-Instituts schlagen in einem weiteren Schritt vor, einen deutlich größeren Hohlraum unter dem zu flutenden Tagebaugebiet Hambach zu installieren, der laut ihnen dann 300 Gigawattstunden Strom speichern könne. Nur zur Erinnerung: Alle Pumpspeicher in Deutschland speichern gerade mal 40 Gigawattstunden.
  • Ein Hubspeicherkraftwerk arbeitet eigentlich nach dem gleichen Prinzip wie ein Pumpspeicherkraftwerk, aber anstatt Wasser nach oben zu pumpen, bewegt es Festkörper in höhere Lagen. Wenn dieser wieder abgesenkt werden, wird der Strom zum Hochziehen wieder zurückgewonnen.

    Es gibt bereits Projekte für den Bau von Testanlagen im schweizerischen Bellinzona und nahe Edinburgh, bei denen ein System aus 6 automatisieren Kränen große, tonnenschwere Betonklötze aufeinanderstapelt und wieder auf den Boden absenken kann (hier im Video ganz gut visualisiert).

Im Bodensee eingesetzter Kugelspeicher

Klingt jetzt alles toll, aber für jedes dieser Konzepte besteht natürlich das Risiko, dass es sich in der Praxis nicht bewährt. Vielleicht sind sie zu teuer, vielleicht zerfrisst das 560 Grad heiße Salz ständig die Isolationsschicht, vielleicht entwickeln die 6 autonomen Kräne ein Bewusstsein und gründen in Kalifornien eine Hippiekommune für polyamore Baumaschinen, das ist alles schwer absehbar. Vielleicht macht die Batterietechnik aber auch derartige Sprünge, dass der Einsatzort der anderen Konzepte später hauptsächlich das Technikmuseum ist.

Ich weiß, „der Markt regelt das“ ist ein Satz, der mittlerweile oft nur ein bitteres Auflachen hervorruft, aber in so einem Fall wäre so ein Markt, durch den sich die besten Ideen durchsetzen, wirklich hilfreich. Problem: So wie der Markt aktuell funktioniert, ist Strom aus Stromspeichern fast immer zu teuer. Solange Strom aus Kohle und Erdgas künstlich verbilligt ist, weil die Rechnung über die Folgekosten für ihre Verbrennung einfach an die kommenden Generationen weitergeleitet wird, ist der Markt stark verzerrt und blockiert die besten Ideen mit den ältesten Ideen.

Und das, obwohl es hier jetzt nur um Speicher ging, die unsere täglichen Schwankungen ausgleichen und damit noch vergleichsweise günstige Strompreise erzielen. Wie speichern wir denn dann erst langfristig Energie, um auch in kalten, dunklen Wintern die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde zu versorgen?

Darum wird es in Teil 5 gehen.

______________________________________________________________________________

Dieser Text wäre nicht zu Stande gekommen, wenn mich nicht viele großzügige Menschen unterstützen würden, die zum Dank dafür in meiner Hall of Fame aufgelistet sind.

Damit der hiesige Blogger sein Leben dem Schreiben revolutionärer Texte widmen kann ohne zu verhungern, kannst Du ihm hier ein paar Euro Unterstützung zukommen lassen. Er wäre dafür sehr dankbar und würde Dich dann ebenfalls namentlich erwähnen – sofern Du überhaupt willst.

How to Energiewende in 10 Jahren, Teil 3: Liegt Deutschland für Solarstrom nicht zu weit im Norden?

Herzlich willkommen zu Teil 3 meiner Artikelreihe zur Energiewende. Solltet ihr Teil 1 und 2 noch nicht gelesen haben, ist es vermutlich besser, erst mal dort anzufangen. Solltet ihr sie schon gelesen, aber längst vergessen haben, was genau drin stand, kommt jetzt ein kurzer „Was bisher geschah“- Absatz:

Bei einer Energiewende werden nicht nur die Emissionen reduziert, sondern auch die Menge an Energie, die verbraucht wird. Das klingt erst mal seltsam, ist aber plausibel, weil nicht-fossile Technik deutlich effizienter ist als das Verbrennen von Sachen, die wir aus der Erde buddeln. Anstatt der heutigen 3.500 Terawattstunden verbrauchen wir dann nur noch 1.500 Terawattstunden Energie. Im letzten Teil haben wir durchgerechnet, wie wir die Hälfte davon mit Windstrom decken können, ohne die Anzahl der Anlagen krass zu erhöhen. Unser gesamter Energiemix (nicht Strommix) sah daher am Ende so aus:

Das war schon mal ein guter Zwischenschritt, denn wir liegen damit bei 900 Terawattstunden regenerativ erzeugter Energie, oder umgerechnet in meine eigens dafür erdachte Einheit bei 9 von 15 Megastrom. Die Frage ist nun aber: Was ist mir den restlichen 6? Und hier kommen wir

WeiterlesenHow to Energiewende in 10 Jahren, Teil 3: Liegt Deutschland für Solarstrom nicht zu weit im Norden?

How to Energiewende in 10 Jahren, Teil 2: Dann müssen wir ja alle Bäume für Windräder fällen

Herzlich willkommen zu Teil 2 meiner Artikelreihe zur Energiewende. Solltet ihr Teil 1 noch nicht gelesen haben, ist es vermutlich besser, erst mal dort anzufangen. Ihr findet ihn hier. Solltet ihr ihn schon gelesen, aber längst vergessen haben, was genau drin stand, kommt jetzt ein kurzer „Was bisher geschah“- Absatz:

Für eine Energiewende brauchen wir viel… nun ja, Energie – (surprise!). Aber eben lange nicht so viel, wie Deutschland aktuell verbraucht. Ein Umstieg auf Erneuerbare Energien bedeutet nicht nur viel weniger Emissionen, sondern aufgrund von effizienterer Technik auch viel weniger benötigte Energie, mutmaßlich nur etwa 40 Prozent der heute verbrauchten. Aber auch diese 40 Prozent entsprechen 1.300 Terawattstunden und sind damit deutlich mehr, als wir heute regenerativ bereitstellen. Die Frage ist daher: Wie sollen wir im „kleinen Deutschland“ so viel erneuerbaren Strom ins Netz speisen?

Und hier kommen wir zu Teil 2:

Zunächst: Die 1.300 Terawattstunden stammen aus der Arbeit „Sektorenkopplung für die Energiewende“ von Prof. Volker Quaschning. Es gibt auch Kritik an dieser Arbeit; das sei zu optimistisch kalkuliert und ginge von Einsparungen aus, die man so nicht einfach annehmen könne. Gut, solche Studien müssen natürlich immer gewisse Annahmen treffen und können nur eine Näherung an die Realität sein (das sieht vermutlich auch Professor Quaschning selbst so). Um das zu berücksichtigen, setzen wir einfach nochmal knapp 15 Prozent Puffer obendrauf und durchdenken das Ganze nicht mit 1.300, sondern 1.500 Terawattstunden Strom, die wir allein in Deutschland generieren wollen.

Na, fragt ihr euch jetzt gerade, was in aller Welt eigentlich eine

WeiterlesenHow to Energiewende in 10 Jahren, Teil 2: Dann müssen wir ja alle Bäume für Windräder fällen

How to Energiewende in 10 Jahren, Teil 1: Wo soll denn die ganze Energie herkommen?

Ist das nicht seltsam? Die Klimakrise ist zu einem der meistdiskutierten Themen im Wahlkampf geworden, aber wie und vor allem DASS (!) wir sie wirklich lösen können, ist für die meisten Menschen nach wie vor kaum nachvollziehbar. Deutschland ohne Kohle, Gas und Öl mit Energie versorgen? Der Eindruck bei vielen ist, dass es dazu an technischen Lösungen fehlt oder diese noch größere Nachteile mit sich bringen.

Nein, verwunderlich ist das wirklich nicht: Das Thema ist sperrig wie nur was und die Menschen, die der Bevölkerung die Lösungen vielleicht mal näherbringen sollten erwecken den Eindruck, dass Arbeitsverweigerung jetzt olympisch geworden ist. Von Politik und Medien gibt es ab und zu mal ein paar unzusammenhängende Brocken dazu, von umfangreicher Aufklärung findet sich dazu aber

WeiterlesenHow to Energiewende in 10 Jahren, Teil 1: Wo soll denn die ganze Energie herkommen?

Best of Social Graslutsching Vol. 1

Okay, für den Fall, dass ich gerade mit dem Handy in der Badewanne liegt und euch fragt, was zur Hölle nochmal Social Graslutsching sein soll, macht noch etwas warmes Wasser und mehr Schaum rein. Es ist so: Auch wenn es hier im Blog gerade aussieht, als sei ich ein stinkefauler Typ, der nach einem Artikel erst mal einen Monat Pause macht, so habe ich in der Zwischenzeit viel geschrieben. Es ist nur leider hier auf dem Blog wenig davon zu sehen – Zeit, das zu ändern.

Ich hatte leider immer schon die Tendenz, „mal eben schnell“ eine Erwiderung auf irgendeinen ärgerlichen Post in Social Media zu schreiben zu wollen, um dann jedes Maß zu verlieren. Am Ende wurde dann aber aus einem kurzen Dreizeiler ein zwei Seiten langes Word-Dokument mit 20 Quellenverweisen, dessen Inhalt ich als Kommentar unter irgendeinen Beitrag auf Facebook kopierte.

Ja, das war immer schon recht putzig, denn der Facebook-Algorithmus wusste mit meinen elaborierten Antworten ungefähr so viel anzufangen wie ein Steinzeitmensch mit einer Vivaldi-CD. Da „Facebook-Algorithmus“ ein wirklich sperriges Wort ist und keine Lust habe, es hier im Text noch mehrmals zu benutzen, nenne ich ihn fortan einfach „Algi“.

Algi war es nämlich vollkommen egal, wie zutreffend oder liebevoll geschrieben eine Antwort war, für ihn zählte nur, WANN ein Kommentar verfasst wurde. Die ersten Kommentare bekommen aus naheliegenden Gründen vor allen anderen ein paar Likes, wodurch Algi sie automatisch als „relevanteste“ Kommentare ganz oben platziert. Das führt zu noch mehr Likes, was wiederum in noch mehr „Relevanz“ mündet und so ersetzte Algi das Motto „Eile mit Weile“ durch „Scheißegal, schreit einfach irgendwas rein, Hauptsache schnell!“.

Unter einem Facebook-Posts vom ZDF-Heute-Account, der fragt, ob die Tiere in der 99-Cent-Wurst eigentlich ihrer Würde beraubt werden, standen typischerweise ganz oben die Kommentare „Ich mag Wuäs!“, „höhö Vegetaria essen mein Essen das Essen weck!! *Smiley der vor Tränen lacht*“ und ein Rezept für Hackbraten. Mein feinsinniger 1.000-Zeichen-Kommentar, der eine elegante Schleife über Kants kategorischen Imperativ zieht und dennoch komplett als Jambus formuliert ist, fristet hingegen ein trauriges Dasein im schummrigen Kommentare-Keller.

Klar, denn bis ich den zu Ende geschrieben hatte, zählte das Hackbratenrezept schon mehrere tausend Likes und Herzchen. Dass ich erst dann noch was Schlaues kommentierte hatte die gleiche Wirkung als wenn ich während dieser berühmten Floskel „Dann möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen!“ bei einer Trauung einschlafe, 4 Stunden später aufwache und „Ja, ich! Cynthia, heirate mich und nicht diesen albernen Schnösel!“ in einen leeren Kirchensaal schreie.

Ja, das konnte schon frustrierend sein. Die meisten normalen Menschen haben dieses Vorhaben nachvollziehbarerweise längst aufgegeben und Facebook bei seiner Evolution in Richtung einer digitalen Kloake nur noch passiv zugesehen. Nun aber hat Algi sich vollkommen unerwartet besonnen – womöglich war er auf einem 4-wöchigen Retreat auf Bali mit Yoga und grünen Smoothies – und die bisherige „Ich belohne den lautesten Schreihals“-Strategie etwas aufgeweicht.

Vor ein paar Monaten hat Facebook meinen Account nämlich ins neue Design überführt und dabei eine kleine Änderung vollzogen: Fortan konnten meine Follower sehen, wenn ich irgendwo kommentierte. An dieser Stelle ein fettes Sorry an alle Menschen, die meiner ausführlichen Diskussion über die korrekte Nutzung von Pömpeln in Camping-Toiletten beiwohnen mussten. Ich werde solche eher delikaten Themen in Zukunft über den Privataccount abknuspern.

Das bedeutet: Es spielte keine Rolle mehr, wann ich mit meinem Kommentar fertig war. Hatte ich was gutes geschrieben, flogen mir spontan ein paar hundert Likes zu und Algi dachte nur „Boah, das ist ja so relevant! Ich muss allen Jans super-relevanten Kommentar ganz oben anzeigen!“. Das war dann schon lustig, wenn selbiger am Ende manchmal sogar mehr Likes hatte als der eigentliche Beitrag, auf der er sich bezog. Nein, sonderlich gerecht ist das immer noch nicht, denn wer nicht zufällig viele tausend Follower hat, dessen Kommentare unterliegen weiterhin der Schreihals-Regel.

Dennoch habe ich das natürlich ausgenutzt und mich in ein paar Diskussionen eingeklinkt, in denen ich unter „normalen“ Umständen keinen Stich mehr gemacht hätte. Damit Ihr auch außerhalb von Facebook etwas davon habt, stelle ich hier ein paar davon vor, denn laut einer Menge privater Nachrichten sind dieselben Fake News auch per WhatsApp oder anderen Medien im Umlauf, so dass ein kurzer, außerhalb von den Datenkraken verfügbarer Link zur Entkräftung gewünscht wurde.

Wenn euch das gefällt, mache ich gerne noch ein paar weitere Teile, Futter dafür gibt es genug.

Thema 1 (weil noch am aktuellsten): Was machen wir bei Hochwasser mit diesen blöden E-Autos, liebe Grünen?

Das war echt ulkig – noch während große Teile der CDU darauf pochten, dass jetzt bitte niemand die Flutkatastrophe politisch instrumentalisieren solle, war die AfD schon drei Schritte weiter und verbreitete auf ihren Kanälen wütende Anschuldigungen an die Grünen. Userin Anns übernahm das und formulierte zum Bild zweier Einsatzfahrzeuge, die in tiefem Brackwasser unterwegs waren:

„Stellt euch mal vor, künftig werden bei solchen Katastrophen nur noch E-Autos eingesetzt. Da würden mal kurz ein paar Funken sprühen, es gäbe einen Kurzschluß (sic) und das war’s dann.“

Ihr Beitrag wurde knapp 90.000 mal geteilt, worauf ich eine in der Sache recht scharfe, aber sachliche Antwort verfasste. Die kam ganz gut an, immer mehr kritische Kommentare sammelten sich unter Annas Beitrag und so löschte sie den ganzen Schund dann irgendwann (yeah).

Die AfD hingegen machte weiter. Sie brachte sogar das Kunststück fertig, sich über Instrumentalisierung zu beschweren und gleichzeitig zu instrumentalisieren. Ein besonders schrulliger Landtagsabgeordneter hatte sowohl den Vorwurf als auch dieses beknackte Bild mit den beiden Notfallfahrzeugen im Hochwasser in seinem Profil – ja was denn jetzt?

Ich hatte meinen Kommentar glücklicherweise noch gespeichert und so veröffentlichte ich ihn einfach am 20. Juli auf meiner Facebook-Seite. Einige Männer machte das so wütend, die kommentieren da immer noch 😂.

Falls ihr also das gleiche Bild in eurer Familien-Whatsapp-Gruppe oder über den Email-Verteiler des Fußballvereins zugeschickt bekommen habt und dachtet „Hmmm, klingt irgendwie komisch, aber ich habe jetzt keine Zeit dafür, das zu prüfen“, hier noch mal in Kurzform, warum dieser Vorwurf wirklich ganz schriller Nonsens ist:

1.: Verbrennungsmotoren und Hochwasser sind in der Regel eine eher schlechte Kombination. Eine Fahrt durch sehr hohes Wasser können entsprechende Notfall-Fahrzeuge nur bewerkstelligen, wenn die für die Verbrennung benötigte Luft (wie auch bei Jeeps) mittels eines Schnorchels auf Höhe des Daches angesaugt wird.

Wenn ihr mit einem normalen Erdöl-Auto in so hohes Wasser fahren wollt, dann packt schon mal die 112 in den Nummernspeicher, ihr werdet sie brauchen. Der Motor eines gewöhnlichen 3er BMW saugt dann nämlich schnell Wasser an und was dann passiert könnt ihr unter „Wasserschlag“ bei Wikipedia nachlesen.

2.: Hey, wir haben 2021, bedeutet: Batterien und Stromkreisläufe kann man isolieren (in echt). Wäre das nicht so, würde auf dem Bild ja auch das Blaulicht nicht funktionieren, das über eine konventionelle Autobatterie Strom zieht. Oder meint ihr der Beifahrer tritt in ein paar Pedalen und lässt das Licht per Dynamo leuchten?

3.: Auch E-Autos werden entsprechend isoliert, aus naheliegenden Gründen insbesondere die Traktionsbatterie (mit der das Auto fährt), so dass die zuallerletzt aufgeben würde, wenn der Innenraum längst durch undichte Stellen oder die Belüftungsanlage vollgelaufen ist. In der Praxis kommen diese Autos daher noch am besten durch stark überflutete Straßen:

4.: Am Verbrennerausstieg sind die Grünen aktuell gar nicht beteiligt, wer regiert dieses überflutete Land denn seit 16 Jahren? Den Ausstieg forcieren die Autofirmen aktuell selbst, weil sie wissen, dass es für sie sonst eng wird bzw. andere Länder und die EU tun das.

5. Wo lädt man E-Autos bei Stromausfall auf? Am besten dort, wo es noch Strom gibt, also in diesem Fall zwei, drei Orte weiter. Selbst in den ländlichen Gebieten gibt es im Umkreis von 10 Kilometern mehrere Ladestationen. Sollte der Stromausfall ein zu großes Gebiet betreffen, wäre das im Prinzip eher ein Argument für eine dezentrale Stromversorgung mittels Wind- und Solarkraft an möglichst vielen Orten als gegen E-Autos.

Eine überflutete Tankstelle bringt euch außerdem genau so wenig wie eine überflutete Ladestation, denn auch die Pumpen der Zapfsäulen funktionieren bei einem Stromausfall nicht mehr.

Für alle, die das gerne ausführlicher nachlesen möchten, sei mein Artikel beim Volksverpetzer ans Herz gelegt. Bei Fake News mit so hoher Verbreitung ist ein Artikel dort das beste Mittel, denn meine Replik war nach Veröffentlichung (laut 1000flies.de) der zweitmeist gelesene/geteilte Artikel im deutschsprachigen Netz (yeah).

Da gehe ich auch darauf ein, dass U-Boote elektrisch funktionieren und wie heuchlerisch die AfD sich dieser albernen Geschichte bedient und dass die patriotischen Verteidiger des Dieselantriebs offenbar keinen Dunst haben, wie so ein Dieselmotor eigentlich funktioniert.

______________________________________________________________________________

Dieser Text wäre nicht zu Stande gekommen, wenn mich nicht viele großzügige Menschen unterstützen würden, die zum Dank dafür in meiner Hall of Fame aufgelistet sind.

Damit der hiesige Blogger sein Leben dem Schreiben revolutionärer Texte widmen kann ohne zu verhungern, kannst Du ihm hier ein paar Euro Unterstützung zukommen lassen. Er wäre dafür sehr dankbar und würde Dich dann ebenfalls namentlich erwähnen – sofern Du überhaupt willst.